Zentrum I: Seine Bedeutung in Dorsten – Ein Bollwerk gegen Sozial­demokratie – In Dorsten stets führend

Von Friedhelm Stoltenberg

In den Jahren der Weimarer Repu­blik (von 1919 bis 1933) war die Deut­sche Zentrumspartei in der Stadt Dorsten, die den Bereich der heutigen Altstadt um­fasste, bis zu ihrer Auflösung im Juli 1933 die weitaus stärkste politische Kraft. Eine ähnlich herausragende Stellung hatte die Partei im Landkreis Recklinghausen, wo sie Stimmenanteile bis zu 46,7 v. H. er­reichte, im Wahlkreis Westfalen Nord, wo ihr Stimmenergebnis zeitweilig 48,0 v. H. be­trug, und im Regierungsbezirk Münster, wo ihre Wahlergebnisse lange Zeit um die 50 v. H.-Marke pendelten. Im mehrheitlich protestantischen Reichsgebiet dagegen kam das Zentrum einschließlich seiner baye­rischen Schwesterpartei, der Bayerischen Volkspartei (BVP), nicht über 19,7 v. H. hin­aus, und es erreichte im ebenfalls mehrheit­lich protestantischen Preußen höchstens 22,3 v. H. der abgegebenen gültigen Stim­men.

Zentrum war in Dorsten bis 1933 stets führend

Wie in allen diesen Bereichen erzielte das Zentrum auch in Dorsten seine höchsten Er­gebnisse bei den Wahlen des Jahres 1919: in der Stadt Dorsten weit über 70 v.  H., im Orts­teil Hervest um 50 v. H. und im Ortsteil Hol­sterhausen über 65 v. H. Im überdurchschnittlichen Maße profitierte die Partei wohl von der Ausweitung des aktiven Wahl­rechts, das in diesem Jahr zum ersten Mal auch den Frauen und zum einzigen Male auch Soldaten zustand. Aber auch unter an­deren Wahlrechtsbedingungen war das Zen­trum zumindest in Dorsten sehr stark gewe­sen: Bei den letzten Reichstagswahlen des deutschen Kaiserreichs hatte es dort Stim­menanteile zwischen 80 und 90 v. H. erreicht. In den Jahren nach 1919 fallen die Wahler­gebnisse der Zentrumspartei in der Stadt und in den Ortsteilen konstant, aber in unter­schiedlichem Ausmaße, ab. An Dorsten je­doch lag es nicht, dass die „Weimarer Koalition“ aus SPD, Zentrum/BVP und DDP nur kurze Zeit überlebte. Hier hielt sie sich, dank der starken Stellung des Zen­trums, bis 1928. Auch die Wahlerfolge der NSDAP seit 1930 konnten die Führungsposi­tion des Zentrums in Dorsten und Holsterhausen nur geringfügig beeinträchtigen, an­ders als in Hervest, wo die Nationalsoziali­sten 1933 dem Stimmergebnis des Zentrums, das mittlerweile unter 30 v. H. gesunken war, gefährlich nahe kamen. Interessant ist hier das Zwischenhoch von über 40 v. H. der Kommunisten bei den Reichstagswahlen vom 14. September 1930: ein „ungeheurer Wahlerfolg“ (Dorstener Volkszeitung). Danach verlaufen die Wahlergebnisse von Zentrum und KPD annähernd parallel, ein äußerliches Indiz für die zeitweilig gute Zu­sammenarbeit zwischen Angehörigen beider Parteien gegen die Nationalsozialisten. Schon 1919 kommentierte die Dorstener Volkszeitung den Ausgang der Wahl zur Verfassung gebenden Nationalversammlung in Dorsten:

„Die Sozialdemokratie hat für ihre Ideen doch noch nicht den Boden gefunden, den sie vielleicht erwartet hatte. Noch herrscht in unserer Stadt Sinn für Recht, Ordnung, Ge­setz und Sitte. Das Zentrum, als das mäch­tigste Bollwerk und Kämpfer gegen die Sozialdemokratie hat besonderen Grund, stolz auf den Ausgang der Wahl zu sein“ (DV vom 16. und 21. Januar 1919).

Dorstener Volkszeitung vom 4. März (o.) und 3. März 1933

„Überschäumen der sozialistischen Welle verhindert“

Und noch 1932 sah der Kommentator dersel­ben Zeitung das Zentrum als einen „festen Block“, der ein „Überschäumen der soziali­stischen Welle verhindert“:

„Es ist nur gut, dass sich an diesem granite­nen Block der Sozialismus in seine verschie­denen Zweige: Nationalsozialismus, Sozia­lismus und Kommunismus scheidet, sonst wäre es um Deutschland-Preußen übel be­stellt« (DV vom 26. April 1926).

Welche „Einäugigkeit“, welche Verkennung der unmittelbar drohenden Gefahr! Eine weitere bemerkenswerte Erscheinung ist die „unerbittliche Konstanz“, mit der der Stimmenanteil des Zentrums in Dorsten zwischen 1919 und 1933 zurückging. Während die Wahlbeteiligung  nicht unerhebliche Schwankungen aufweist, scheint sich die Zentrumswählerschaft in ihrem Wahlverhal­ten durch nichts beeinflussen zu lassen. Al­lenfalls in Holsterhausen sind Auswirkungen der Unruhen und Aufstände der Jahre 1919 und 1920 erkennbar. Die Ereignisse von 1923:  Ruhrkampf,  Inflation und Hitler-Putsch, Ereignisse, die immerhin beinahe zum frühen Ende der Weimarer Demokratie geführt hätten, lassen Zentrumswähler und -wählerinnen offensichtlich ebenso unge­rührt wie die Entspannung der politischen und der wirtschaftlichen Lage zwischen 1924 und 1928. Wen wundert es dann, dass auch bei derart entscheidenden Vorgängen – wie dem Zusammenbruch der Großen Koalition im Reich (27. März 1930). wie der Absetzung der preußischen Regierung, der letzten SPD/Zentrum-Regierung, am 20. Juli 1932 -, dass schließlich auch nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten kein Aufbäu­men erfolgte. Dieses für manche unverständ­liche Verhalten, diese scheinbare Passivität, dieser Gleichmut, findet eine Erklärung in der Geschichte des Zentrums.

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Durch das Gleichschaltungsgesetz ausgeschaltet

Die Folgen dieser Entscheidung bekam auch das Dorstener Zentrum bald zu spüren. In der Sitzung des Gemeinderats Holsterhau­sen vom 4. April 1933 forderte der Sprecher der NSDAP „unter Hinweis auf das Ermächti­gungsgesetz“ den Vorsteherposten für seine Partei, „damit die Gleichschaltung von oben bis unten durchgeführt werde“. „Sollten die anderen Parteien diesem Vorschlag nicht zustimmen, so würden sie das als Kampf auffas­sen und ihr Verhalten danach einzurichten wissen“ (DV vom 5. April 1933). Noch wagt der Sprecher des Zentrums den Widerspruch, noch wird – im zweiten Wahlgang – der Ver­treter des Zentrums gewählt. In der Gemeinderatssitzung am selben Tage in Hervest verzichtete das Zentrum auf die Benennung eines eigenen Kandidaten für das Amt des Vorstehers, da die NSDAP mit den Deutschnationalen und dem Vertreter der Evangelischen Vereinigung eine „Ar­beitsgemeinschaft“ gebildet hatte. Beim anschließenden Wahlgang für das Amt des Stellvertreters stimmte nur eine Minderheit der Zentrumsfraktion für den eigenen Kan­didaten, obwohl sie ihn wenige Tage zuvor einstimmig zum Fraktionsvorsitzenden ge­wählt hatte.

Anfang April 1933 hatte sich die Evangeli­sche Vereinigung aufgelöst. Ihr Stadtverordneter war zur NSDAP übergetreten. Da­her sah sich die Mehrheitsfraktion (Zen­trum: 10 Sitze) nunmehr einer Opposition von sieben NSDAP- und drei Stadtverordne­ten des Überparteilichen Blocks (aus DNVP und DVP) gegenüber, während das 21. Man­dat, das den Kommunisten zustand, nicht mehr „besetzt“ war.

Bürgermeister Lürken (Zentrum) aus dem Amt gehebelt

Ebenfalls Anfang April hatte ein von der NSDAP be­antragter Untersuchungsausschuss eben­falls seine Arbeit begonnen, und das Verfah­ren lief auch in Dorsten nach einem damals in vielen Städten praktizierten Muster ab: Am 16. Juni 1933 verkündete der Sprecher der NSDAP-Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung die pauschalen Vor­würfe gegen Bürgermeister Lürken und die Stadtverwaltung. „Wegen der zahlreichen Vorwürfe […] habe der Landrat dem Bürger­meister nahe gelegt, seinen sofortigen Ur­laub zu nehmen.“ Die Magistratsmitglieder des Zentrums wurden aufgefordert, „ihre Mandate sofort zur Verfügung zu stellen“. Die beiden Zentrumsmitglieder legten ihr Magistratsmandat am 21. Juni 1933 nieder, der Bürgermeister bat die Regierung um seine vorzeitige Pensionierung. Später wurde er als Bürgermeister nach St. Mauritz bei Münster versetzt. Dort verunglückte er tödlich. Mittlerweile war das Gleichschaltungsgesetz vom 31. März 1933 in Kraft, wonach sämtli­che gemeindliche Selbstverwaltungskörperschaften aufgelöst und nach dem Ergebnis der Reichstagswahlen vom 5. März 1933 neu zu bilden waren. Damit wurde das Zentrum auch in Dorsten aus seiner führenden Stel­lung verdrängt.
Während bereits zahlreiche Parteimitglieder – führende Vertreter eingeschlossen – in die NSDAP übertraten, blieben die Parteiorga­nisationen der Dorstener Zentrumspartei wohl bis zum Ende erhalten. Erst nach dem Auflösungsbeschluss der Deutschen Zen­trumspartei vom 5. Juli 1933 lösten auch sie sich auf. unbemerkt von einer Öffentlich­keit, die mittlerweile mehrheitlich in den „Dienst am neuen Staat“ eingetreten war.

 

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Ein Kommentar zu Zentrum I: Seine Bedeutung in Dorsten – Ein Bollwerk gegen Sozial­demokratie – In Dorsten stets führend

  1. Christian Gruber sagt:

    Noch stärker war das Zentrum in den „Landgemeinden“ Erle, Rhade, Lembeck und Wulfen. Die Wulfener Ergebnisse der Reichstagswahlen sind zu finden auf der Seite http://wulfen-wiki.de/index.php/Wahlergebnisse.
    Bei der ersten Bundestagswahl 1949 erzielte das Zentrum in Wulfen 32% der Stimmen und war in Lembeck noch in den 60er Jahren im Gemeinderat vertreten.

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