Die Erinnerung: Zwei Begegnungen mit Julius Ambrunn – „Paul, du darfst nicht mit mir sprechen!“

Von Paul Fiege

Es war während der belgischen Besatzungs­zeit in Dorsten (1923/25). Meine Mutter war sehr krank gewesen und musste zwingend zur Kur fahren. Wir waren sechs Kinder. Mein Vater lebte nicht mehr; er war aus dem ersten Weltkrieg nicht mehr zurückgekehrt. In dieser schwierigen Lage hatte Mutter eine ledige Schwägerin, die in Essen wohnte und abkömmlich war, gebeten, solange in Dor­sten die Haushaltsführung zu übernehmen. Unsere Tante Anna willigte ein. Doch schei­terte ihr Kommen daran, dass sie von den Besatzungsbehörden kein Visum für die Reise nach Dorsten bekam. Die städtische Fürsorgerin sorgte dann dafür, dass wir Kin­der während Mutters Abwesenheit im Anna-Stift, dem städtischen Alters- und Kinderheim, aufgenommen und versorgt wurden. Hier im Anna-Stift hatte ich die erste unvergessliche Begegnung mit Julius Ambrunn.

Ich spielte gerade beim Eingang des Anna-Stiftes, als Herr Ambrunn vom Westwall her kam und zur Pforte ging. Das Anna-Stift befand sich damals noch neben dem Kran­kenhaus am Westwall. Als die Ordensschwe­ster, die damals das Stift leitete, die Tür öff­nete, hörte ich Herrn Ambrunn sagen: „Sind hier die Kinder der Kriegerwitwe Fiege untergebracht?“ Auf die bejahende Ant­wort fuhr er fort: „Musste das denn sein? Gab es keine andere Lösung, die Kinder zu versorgen? Hätte ich das eher gewusst, hätte ich eines der Kinder bei mir aufgenom­men.“ Als die Schwester auf mich zeigte und darauf hinwies, dass ich eines der Kinder Fiege sei, wandte sich Herr Ambrunn mir zu und fragte: „Möchtest Du zu uns kommen?“

Nun, ich mochte. In kürzester Zeit hatte Julius Ambrunn die bürokratischen Hemm­nisse, die meiner Mitnahme im Wege stan­den, beseitigt. So kam es, dass ich die restli­che Zeit während Mutters Abwesenheit in der Familie Ambrunn verbrachte. Tief be­eindruckt hat mich, obwohl ich noch ein Kind war, bei diesem Aufenthalt in der jüdi­schen Familie die Frömmigkeit und die geübte Toleranz der Eheleute Ambrunn. Sie beschäftigten damals eine evangelische Köchin. Wie sie bei mir, dem katholischen Jungen, darauf achteten, dass ich täglich betete und den Besuch der hl. Messe ein­hielt, so legten sie auch großen Wert darauf, dass die Köchin den sonntäglichen Gottes­dienst in der evangelischen Kirche besuchte und auch am Gemeindeleben teilnahm. So war die Köchin auch Mitglied des Kirchen­chores. Die Proben fanden regelmäßig sonn­tags nach dem Gottesdienst statt. Dadurch kam das Mittagessen bei den Ambrunns erst spät auf den Tisch, was die Ambrunns über­haupt nicht störte. Entschuldigte sich die Köchin für ihr spätes Kommen, so wurde ihr gesagt: „Der Mensch hat zuerst Gott zu die­nen!“

Die zweite nachhaltige Begegnung mit Julius Ambrunn fand in den ersten Kriegsjahren statt. Ich war beim Militär und besuchte Dorsten im Urlaub. Am Essener Tor stehend, sah ich Herrn Ambrunn aus der Post kommen; ein gebeugtes, von Leid und Kummer fast erdrücktes, altes Männlein. Der Mantel, versehen mit dem gelben Judenstern, schlot­terte nur so um seine Glieder. Ich ging auf ihn zu und begrüßte ihn. Nur ganz kurz blitzte in den Augen des verhärmten Gesich­tes Freude auf. Dann sagte er, bevor ich mich äußern konnte: „Paul, geh’ weiter. Sprich nicht mit mir. Du darfst nicht bei mir stehen bleiben und mit mir sprechen!“ Mit einer entsprechenden Geste und mit Worten ver­suchte ich auszudrücken, dass mich das Ver­bot nicht störe. Doch er schnitt mir das Wort ab und meinte schon mehr murmelnd: „Dann muss ich wohl für Dich handeln! Lebe wohl!“ Dabei drehte er sich um, ließ mich stehen und trippelte davon. Wie erstarrt bin ich stehen geblieben, hilflos, und habe ihm lange nachgeschaut.

 

 

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