Tisa von der Schulenburgs Holocaust-Zyklus – ein großes Warnbild wie Picassos „Guernica“

Von Wolf Stegemann

Eine höchst ungewöhnliche Frau, die beina­he ebenso alt wurde wie das Jahrhundert, in dem sie lebte, fast die Hälfte davon im Dorstener Ursulinenkloster. Die Rede ist von Sr. Paula, die bürgerlich Elisabeth Gräfin von der Schulenburg (1903 – 2001) hieß und in der Region als Künstlerin Tisa bekannt ist. Sie ist die Symbiose der Geschichte dieses Jahrhunderts mit seinen Höhen und Tiefen, mit seiner Standhaftigkeit und seinen Schwächen, mit seinen Ent­wurzelungen und Heimfindungen.

In ihrer Kunst widmet sich Tisa von der Schulenburg, Schwester des nach dem 20. Juli 1944 hingerichteten Widerstandskämp­fer Fritz Dietlof Graf von der Schulenburg, vier Themenbereichen: den Menschen im Bergbau, den Menschen in Not und Drangsal, den verfolgten Juden und dem religiösen Bereich.

In den 1960er-Jahren schuf sie mit der Rohrfe­der in der Leidenschaftlichkeit des Mitlei­dens den Holocaust-Zyklus, den sie, die Ehrenbürgerin, der Stadt Dorsten schenkte, die diese 41 Blätter dem Jüdischen Museum Westfalen als Dauerleihgabe zur Verfügung stellt. Die Zeichnungen zur Judenverfolgung sind als ein großes Menetekel zu werten. Dann erfüllen sie ihre Mission. Das Festhalten jenes unsäglichen Leids, das den Juden zugefügt wurde, ist nicht als Anklage zu ver­stehen. Vielmehr ist es der Versuch der Künstlerin, das Wissen um die Geschichte wachzurütteln und wach zu halten. Die Kunsthistorikerin Anneliese Schröder bemerkt zu den Zeichnungen:

»Die spröde Rohrfeder umreißt die Gestalten mit brei­ter Kontur, sie bildet Figuren aus hartem, eckigem, sich sträubendem und sich jedem weichen Fluss widersetzenden Lineament. Sie entblößt schonungslos Wundmale der Opfer; sie übersteigert den physiognomischen Ausdruck der Einzelgestalt, um ihn dann wieder völlig zu negieren in jenen sze­nischen Darstellungen, wo Menschen ge­sichtslos bleiben und als anonyme Massen zu gruppenhaften Kollektivgebilden verar­beitet werden.«

Sr. Paula mit Albert Schulze-Vellinghaus 1964; Foto: Schulenburg-Archiv Stegemann

Schwarz und weiß, das sind meine Elemen­te, hat Max Beckmann einmal geschrieben. Und das Schwarzweiß ist auch Tisas Ele­ment, was keineswegs ausschließt, dass viele Blätter eine primär malerische Wirkung haben, wenn die Tusche mit grau-schwarzer Wolkigkeit den Bildgrund füllt. Schwarz­weiß ist hier – und so war auch das Wort Beckmanns gemeint – nicht nur tech­nisch als Ausschaltung von Farbe zu sehen, sondern als eine Art Bekenntnis, gemäß jener Übereinkunft, nach der Schwarz und Weiß Böse und Gut symbolisieren.

Der Kunstkritiker Albert Schulze-Velling­hausen antwortete dereinst auf die Frage, ob Tisa von der Schulenburgs Werk Anklage und Kritik zugrunde liege: »Nein, es handelt sich um Wachsamkeit. Hüten wir uns vor den schlimmen Schergen! Hüten wir uns aber nicht zuletzt vor uns selbst, vor unseren eigenen, schlimmen Instinkten. Dieser Zyklus ist ein großes Warnbild, ein Warn­bild wie Breughels „Kindermord“ und wie Picassos „Guernica“.« – Die Zeichnungen heißen »Ins Gas« (links), »Auschwitz« und „Im Ofen“ (unten).

 

Nach dem Krieg in »neuer Haut« weitergelebt

Von Geburt Gräfin, aus Berufung Künstlerin und aus Überzeugung Nonne, war Sr. Paula, vormals geschiedene von Barner, davor geschiedene Hess und davor geborene Gräfin Elisabeth Karoline Mary Margarete Veronika von der Schulenburg, eine höchst ungewöhnliche Frau, die annähernd ein volles Jahrhundert gelebt und fast das gesamte 20. Jahrhundert mit seinen Brüchen und Verwerfungen erlebt hat. Daher zeichneten persönliche und existenzielle Brüche ihr Leben.

In Dorsten und in der Region war sie bekannter als der Bürgermeister. Nur wer von draußen kam, sie nicht kannte, mag überrascht gewesen sein von Sr. Paula. Die traditionell steife, die Bewegung hemmende, gleichmachende und vieles zudeckende Ordenstracht machte sie schon lange nicht mehr zur anonymen Streiterin Gottes und Braut Jesus, bei der nur das Gesicht in schwarz-weißer Umrahmung noch den sichtbaren Menschen ausmachte. Das Habit legten die Dorstener Ursulinen nach eigenem Ermessen und nie ganz unumstritten ab.

Tisa von der Schulenburg starb 2001. In der Erinnerung mögen sie noch viele vor sich sehen: Unmerklich vom Alter der beiden letzten Lebensjahrzehnte gebeugt, stand vor einem eine groß gewachsene, dennoch zierlich wirkende, weißhaarige Dame in kniekurzem Rock, Pullover und Kniestrümpfen. Dazu ein Halstuch und eine Cordjacke, auf dem Kopf die unverwechselbare gestrickte Baskenmütze. Und wenn sie so vor einem stand, erzählte und gestikulierte und sprach, dann war sie ganz Dame von preußischem Einschlag: Aristokratin von Geburt und Erziehung, das ließ sich auch nach einem so reichhaltigen Leben im Auf und Ab der Widersprüche und Lebensformen nicht leugnen.

Untertauchen und Identität verlieren

Im hohen Alter wendete sie sich immer stärker nach außen, was sie durch leidvolle Erfahrungen in sich verschlossen hatte. Ihr reich geschwungener Lebensweg, ihn 1903 auf Schloss Tressow (Dorf Gressow) in Mecklenburg betreten, als Künstlerin in Berlin, Paris und England nicht zur Freude ihrer ganzen Familie fortgeführt, als Ehefrau eines reichen Kaufmanns jüdischer Abstammung, dann als die eines preußischen Junkers weitergegangen, Bildhauerin, Sozialfürsorgerin und Journalistin nach dem Kriege, führte die zum Katholizismus konvertierte und Lebenshalt suchende Künstlerin schließlich 1950 ins Dorstener Ordenshaus der Ursulinen. »Untertauchen, Identität verlieren, aus allem raus, aus der Isolation des Standes, aus der Überlieferung, aus den Bindungen«, war stets ihr gedanklicher Lebensbegleiter und Lawrence von Arabien ihr Held, der Held ihrer Generation.

Tisas Leben war ein Untertauchen, bei dem sie mehr als einmal den Boden unter den Füßen nicht mehr fühlte. Ihre Heirat und Emigration, ihre Zuwendung zu englischen Bergarbeitern, wo sie sich zerschmettern lassen wollte, »damit irgendwelche Splitter fruchtbar weiterwirken«, ihre Konversion zum katholische Glauben: das alles war ihre neue Haut, die sie brauchte, um auch die Schicksalsschläge während der NS-Diktatur zu überwinden, die ihren Lieblingsbruder Fritz, der von 1928 bis 1932 Assessor beim Landratsamt Recklinghausen gewesen war, das Leben kostete. Er wurde wegen des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 als Verschwörer nach dem Volksgerichthof-Urteil am 10. August hingerichtet.

Rede-Manuskript der Verleihung der Ehrenbürgerrechte 1972 (Schulenburg-Archiv Stegemann)

Untertauchen in die Anonymität des Klosters

Damit fing Sr. Paula ihr Leben im freiheitlichen Nachkriegsdeutschland an. Warum Dorsten? Warum gerade nach Berlin und London jetzt Dorsten? Hamburg war ihr zu kaufmännisch-kalt, Süddeutschland zu schwülstig-barock. Um in der Nähe der Bergleute zu sein, kam sie durch private Beziehungen nach Dorsten, einer Stadt, die für die Nachkriegsjugend neu aufgebaut werden musste. Denn das alte Dorsten starb im Bombenhagel des Jahres 1945. Sr. Paula damals: »Entweder raffen wir uns auf und geben der Stadt das Gepräge, oder wir denken nur an Essen und Trinken und lassen diese alte Stadt zu einem gesichtslosen Gebilde werden!« Sr. Paula war eine von denen, die mithalfen, der Lippestadt das Gepräge zu geben. »Ich spreche aus ganzem Herzen mein Ja zu Dorsten.«

Die Stadt erkor die preußische Generalstochter und künstlerische Nonne 1972 zu ihrer Ehrenbürgerin und gründete zwanzig Jahre später ihr zu Ehren die kommunale Tisa von der Schulenburg-Stiftung, um Nachwuchskünstler und -künstlerinnen zu fördern.

In ihrer Rede bei der Verleihung der Ehrenbürgerschaft sagte sie: »Man kann aus seiner Haut nicht raus … Es geht nur um eins, mit jedem Wurf neu zu versuchen, ob es mir nicht gelingt, als Künstler besser zu verstehen, als Mensch besser zu werden. C’ést ça…« Die Klostermauern wurden im Laufe der Jahre transparent. Sr. Paula tauchte wieder auf wie ein Stabhochspringer über Mauern. Und mit ihr kam der reiche Schatz der menschlichen und künstlerischen Erfahrung ihren langen Lebens zum Vorschein, das sie wie besessen niederschrieb, um der Jugend ein stiller und schlichter und dennoch eindringlicher Mahner zu sein, wobei sie den Zeigefinger nie lehrend erhob, sondern mit ihm hindeutete auf all das Leid und die Not der Menschheit – hier und in der Welt.

Tisa von der Schulenburg unterstützte stets die Arbeit der Forschungsgruppe »Dorsten unterm Hakenkreuz« und das aus dieser Arbeit entstandene Jüdische Museum Westfalen.

 

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