Was im Verbrechen gegen die Menschen endete, begann mit der Ausgrenzung – Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose

Von Prof. Dr. Hans Mommsen

Mit dem Holocaust ging eine Jahrhunderte­ lange Symbiose zwischen Deutschen und Juden unwiderruflich zu ende. Dass die extreme antisemitische Propaganda der NSDAP zu dem verbrecherischen Versuch führte, das Judentum in Europa auszulö­schen, hat niemand vorhergesehen und nicht vorhersehen können. Zwar verstieg sich die antisemitische Hetze bereits im 19. Jahrhundert vielfach zu Drohungen, aus denen die Absicht sprach, zur physischen Ausrottung der Juden überzugehen. Dass sich dies als Konsequenz der stufenhaften Radikalisierung der nationalsozialistischen Judenverfolgung ergab, vermochten nicht einmal die von der Mordabsicht Betroffe­nen frühzeitig zu begreifen, und die weni­gen, die die wahre Natur der Deportation in den Osten durchschauten, hielten wie der Rabbiner Leo Baeck mit dieser Einsicht zurück, um den Überlebenswillen ihrer Mit­gefangenen nicht zu zerstören. Aber bis zum Wendepunkt, den die nationalsozialistische Machteroberung für das Zusammen­leben von Juden und Deutschen brachte, blieb der extreme Antisemitismus auf gesellschaftliche Randgruppen beschränkt. Selbst die NSDAP sah sich veranlasst, die antisemitische Agitation in den entschei­denden Wahlkämpfen von 1930 bis 1932 zu begrenzen, da sie ihr keine weiteren Wähler eintrug.

Der organisierte Antisemitismus ging fast vollständig in der NSDAP auf.

Die im Vergleich zu ostmitteleuropäischen Agrargesellschaften relative Schwäche des extremen Antisemitismus in Deutschland steht in eigentümlichem Kontrast zu den verhängnisvollen Wirkungen, die von ihm ausgingen. Der aktivistische Antisemitis­mus, der eine vollständige Ausschaltung des Judentums anstrebte und weitgehend rassi­sche Argumente aufgriff, war in der Weima­rer Republik durch den Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund, eine Nebenorgani­sation des Alldeutschen Verbandes, und den sich dann als Deutschvölkische Freiheits­partei abspaltenden rechten Flügel der DNVP getragen. Die Nachkriegswirren brachten ein rasches Ansteigen antisemiti­scher Tendenzen, aber sie traten in der Stabilisierungsphase weitgehend zurück. Anti­semitische Strömungen waren nur in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen, darunter dem der Hochschulen, verbreitet. Der organisierte Antisemitismus ging fast vollständig in der NSDAP auf. Bedeutsam war, dass ein hoher Prozentsatz der Angehörigen der engeren Führungsgruppe aus dem völkisch-antisemitischen Lager zum Nationalsozialismus gelangte. Die von Hitler im Klima der Münchener Gegenre­volution aufgegriffene antisemitische Rhe­torik zielte in erster Linie auf die Integrati­on dieses Anhängerkerns, der innerhalb des gesamten Funktionärskorps jedoch eine Minderheit ausmachte. Von den Parteimit­gliedern waren, wie informelle Umfragen ergaben, kaum mehr als 5 % zu den aktivi­stischen Antisemiten zu rechnen. Daraus leitet sich die Frage ab, wie es mög­lich war, dass eine kleine Minderheit in der NSDAP das Gesetz des Handelns an sich reißen und große Teile der Bevölkerung gegenüber radikalen antisemitischen Maß­nahmen immunisieren konnte. Als ideologi­sches Versatzstück erwies sich der rassische Antisemitismus für die NSDAP als unent­behrlich, da er als Kitt fungierte, um die antagonistischen Bestandteile der NS-Weltanschauung, darunter den Antikapitalismus und Antibolschewismus, mit dem Anschein von Widerspruchsfreiheit zusammenzufü­gen. Neben Hitler bestimmten mit Heinrich Himmler, Joseph Goebbels, Rudolf Heß und Hermann Esser extreme Antisemiten die Atmosphäre an der Parteispitze, was den Parteiführer nicht hinderte, den ras­senantisemitischen Ideologen Alfred Ro­senberg und Julius Streicher mit kritischer Distanz zu begegnen. Obwohl sich Hitler in Einzelfällen dazu bereit fand, auch in der Judenfrage zurückhaltender zu verfahren, als die antisemitischen Heißsporne in der Partei im Sinne hatten, sympathisierte er durchweg mit deren unautorisierten Über­griffen und deckte diese gegenüber staatli­chen oder parteigerichtlichen Sanktionen, was als indirekte Aufforderung erscheinen musste, das Vorgehen gegen die Juden zu verschärfen.

Der Freibrief für antisemitische Betätigung des radikalen Kerns der NSDAP führte mit innerer Notwendigkeit zu einer kontinuier­lichen Verschärfung der gegen den jüdi­schen Bevölkerungsteil gerichteten Diskriminierungs- und Ausschaltungsmaßnah­men, weil die »Judenfrage« nahezu das ein­zige politische Betätigungsfeld geblieben war, auf dem die NSDAP eigenständige Initiativen entfalten konnte. Im Zuge der Gleichschaltung war die Ämterpatronage der Partei rasch zum Erliegen gekommen und war ihr Einfluss auf die öffentliche Ver­waltung und die staatliche Personalpolitik sehr bald zurückgedrängt worden, was die Politischen Leiter veranlasste, gegenüber dem Stellvertreter des Führers über den Fortbestand eines »absolutistischen« Beam­tenstaates und einer politisch sterilen Büro­kratie larmoyante Klage zu führen. Insbe­sondere die Gruppe der »Alten Kämpfer«, die gutenteils wegen mangelnder fachlicher Eignung beim Gleichschaltungsprozess zu kurz gekommen oder aus dem öffentlichen Dienst trotz aller Anweisungen auf bevor­zugte Behandlung wieder ausgeschieden war, drängte auf die Verwirklichung des Parteiprogramms in der »Judenfrage« und erwies sich als Motor einer beständigen Radikalisierung.

Ministerialbürokratie machte in der  »Judenfrage« Konzessionen

Es war von größter Bedeutung, dass die im Staatsapparat verbliebenen konservativen Eliten, die die hineingenommenen national­sozialistischen Außenseiter rasch assimilier­ten, die aufgestauten sozialen Energien der NSDAP auf das Feld der Judenfrage ab­leiteten, während sie sie von anderen Politikfeldern konsequent abdrängten. Während die Ministerialbürokratie sonst zäh bestrebt war, am Prinzip der Gesetz­mäßigkeit der Verwaltung und dem formalisierten Rechtsstaat festzuhalten, zeigten sie sich bereit, in der »Judenfrage« Konzessio­nen zu machen, zumal sie erwarteten, dass diese sich alsbald totlaufen würde. Eine schrittweise Ausschaltung der Juden und einzelne auswanderungsfördernde Diskriminierungen gestand sie unter der Bedin­gung zu, dass diese nicht vermittels der »wilden Aktionen« von SA und NSDAP, sondern in gesetzlichen Bahnen erfolgen sollten. Die »Judenfrage« fungierte gleichwohl als Ventil einer unaufhaltsamen inne­ren und äußeren Aushöhlung der normati­ven Staatlichkeit, und sie bildete die Ein­bruchsstelle ungehemmter politischer Will­kür und Rechtsbeugung, die das politische System schließlich aufsprengen sollten. Durch fortwährende Konzessionen an die unter dem Druck der Radikalen handelnde Parteiführung begab sich die Ministerialbürokratie auf eine schiefe Ebene, so dass sie sich immer mehr in die verbrecherische Politik des Regimes verstrickte und ihr daher keinen entschiedenen Widerstand entgegenzusetzen vermochte.

Gegen jüdische »Über­fremdung« zu sein, gehörte zum guten Ton

Dass sich dieser Prozess vergleichsweise rei­bungslos vollzog, hing nicht zuletzt mit der durchweg antisemitischen Grundhaltung der konservativen Führungsschichten in Armee, Verwaltung und Wirtschaft zusam­men. Es gehörte seit den Tagen der Deutschkonservativen Partei zum guten Ton, gegen die angebliche jüdische »Über­fremdung« Deutschlands Front zu machen und die Ausscheidung von Juden aus öffent­lichen Schlüsselstellungen zu verlangen. Vom extremen Antisemitismus hob sich diese konservative Position dadurch ab, dass sie sich in der Regel auf eine entschiedene gesellschaftliche Dissimilation des Judentums beschränkte und die assimilierten jüdi­schen Gruppen von den rechtlichen und gesellschaftlichen Diskriminierungsmaß­nahmen ausnehmen wollte. Der latente Antijudaismus, der auch in katholischen Kreisen weit verbreitet war, unterschied sich vom auf die Zerstörung der jüdischen Existenzgrundlagen gerichteten rassischen Antisemitismus qualitativ. Aber er wirkte sich psychologisch dahingehend aus, dass konservative Funktionsträger in der Verwaltung und der Wehrmacht, so wenig sie mit der von der NSDAP verfolgten »har­ten« Linie in der »Judenfrage« überein­stimmten und deren verbrecherische Methoden akzeptierten, keine Veranlassung sahen, gegen die ersten Stufen der national­sozialistischen Judenverfolgung Einspruch zu erheben. So nahm das Offizierskorps der Wehrmacht das gewaltsame Ausscheiden der jüdischen Offiziere und die Unterbin­dung des Wehrdienstes von Juden wider­standslos hin. Die unter dem Vorwand der Beseitigung des jüdischen Übergewichts in einzelnen Berufszweigen systematisch betriebene Ausschaltung von Juden aus dem öffentlichen Dienst und akademischen Berufen wurde in konservativ-bürgerlichen Kreisen weitgehend gebilligt. Auch die Mehrheit der späteren nationalkonservativen Opposition gegen Hitler stand auf dem Standpunkt einer weitgehenden rassischen Dissimilation, wenngleich sie Gewaltmetho­den, wie im Falle des Novemberpogroms und die späteren Liquidationen in Polen, eindeutig ablehnte.

Keine einhellige Zustimmung in der Öffentlichkeit

In der breiten Öffentlichkeit stieß die Judenverfolgung keineswegs auf einhellige Zustimmung, wenngleich das offizielle Klima von den antisemitischen Scharfmachern geprägt wurde. Wie wenig antisemiti­sche Maßnahmen populär waren, zeigte sich daran, dass es vielmals wiederholter Verbote bedurfte, um Parteigenossen oder An­gehörige des öffentlichen Dienstes davon abzuhalten, weiter bei Juden einzukaufen. Wie bereits beim Aprilboykott 1933 bewie­sen die von Goebbels ausgelösten Pogrome vom 8. bis 11. November 1938, dass die deut­sche Bevölkerung sich mit wenigen Ausnah­men nicht zu Gewalttaten gegen jüdische Mitbürger hinreißen ließ und von einer Ent­fesselung des »Volkszorns« gegen Juden keine Rede sein konnte. Andererseits wur­den die Gewaltakte und Zerstörungen während der Pogrome nicht aus huma­nitären Überlegungen, sondern als Verstöße gegen Recht und Ordnung kritisiert, während die anderntags durchgeführten Massenverhaftungen von Juden, die auf einer Anordnung Heydrichs beruhen, von diesem Verdikt ausgenommen wurden. Trotz der systematisch betriebenen antise­mitischen Indoktrination durch die Goebbelssche Propaganda fanden die Verfol­gungsmaßnahmen gegen die jüdischen Mit­bürger nur begrenzt die Billigung der deut­schen Bevölkerung, die sich überwiegend indifferent verhielt. Auch nach der Ver­schärfung der antisemitischen Hetze nach dem Angriff auf die Sowjetunion und trotz der immer wieder in die Köpfe eingehäm­merten Gleichsetzung von Bolschewismus und Judentum sah sich das Regime veran­lasst, die Genozidpolitik vor der Bevölke­rung zu verbergen. Eine erste vergleichswei­se offene Sprachregelung zur gegen die Juden durchgeführten Deportations- und Vernichtungspolitik musste wieder zugun­sten der Fiktion eines kriegsbedingten Arbeitseinsatzes der Juden zurückgenom­men werden.

Eskalation der Judenverfolgung weitgehend unbemerkt

Welche Auswirkungen der offizielle Antise­mitismus auf die Einstellung der deutschen Bevölkerung gehabt hat, ist schwer abzu­schätzen. Es ist aufschlussreich, dass Goeb­bels offen antisemitische Filme wie später »Jud Süß« bis 1939 im allgemeinen zurück­hielt und die hemmungslose Agitation des »Stürmer«, der wiederholt verboten wurde, kritisch betrachtete. Erst im November 1938 gab er die bisherige Zurückhaltung mit der Entfesselung der »Reichskristallnacht« auf, wobei sehr unterschiedliche Motive ein­wirkten. Langfristig hatte die antisemiti­sche Agitation vor allem die Wirkung, dass an die Stelle des Bildes der einheimischen Juden das verzerrte Klischee des nichtassimilierten Ostjuden trat. In dem Maße, in dem Juden aus dem Erfahrungsbereich des durchschnittlichen Individuums zurücktra­ten, konnte dieses Klischee zumal bei Jün­geren eine verhängnisvolle Wirkung ausü­ben. Andererseits befürchtete die Partei­kanzlei, dass spätere Generationen die »Judenfrage« nicht mehr »lebensklar« ge­nug erfassen würden, und folgerte daraus die Notwendigkeit, die Gesamtlösung un­verzüglich in Angriff zu nehmen.

Die Haltung der Bevölkerung zur jüdischen Frage war in erster Linie durch eine tief grei­fende Indifferenz geprägt. Dafür war weni­ger maßgebend, dass sie unter dem anhal­tenden Druck der Propaganda, der Gefahr von Denunziationen und der Androhung von Repressalien Kontakte zu Juden ver­mied und damit deren Schicksal mehr und mehr aus den Augen verlor. Die schrittwei­se vorangetriebene soziale Segregation des jüdischen Bevölkerungsteils, die mit der kontinuierlich verschärften gesetzlichen Ausschaltung aus dem deutschen Lebensbe­reich einherging, bewirkte, dass die Eskalati­on der Judenverfolgung weitgehend unbeachtet blieb. Überall gab es einen Boden­satz von fanatischen Antisemiten, die den im Lande ausharrenden jüdischen Mitbür­gern das Leben sauer machten. Doch blie­ben beträchtliche regionale Unterschiede in der Verbreitung antisemitischer Einstellun­gen, die teilweise auf das 19. Jahrhundert zurückgingen. So gab es in Franken, einem Stammland des Antisemitismus, wenig Anzeichen der Opposition gegen die als ungerecht empfundene Diskriminierung und Verfolgung der Juden, während in Ber­lin verschiedentlich auch öffentlich Kritik an den antisemitischen Aktionen des Re­gimes geübt wurde. Immerhin überlebte hier ein Viertel der mehr als 5.000 in den Untergrund gegangenen Juden dank der Hilfe deutscher Mitbürger.

In die Anonymität der Großstädte ausweichen

Der Durchschnittsbürger kam immer weni­ger in Kontakt zu jüdischen Mitbürgern, deren soziale Ausgrenzung frühere gesell­schaftliche Beziehungen zur Mehrheitsbe­völkerung zerschnitt und deren ökonomi­sche Existenz zunehmend zerschlagen wurde. Die Bemühungen der Judenreferen­ten im Reichsministerium des Innern, jüdi­sche Mischlinge und Angehörige von privi­legierten Mischehen von der Verfolgung auszunehmen, verstärkte die Isolierung des jüdischen Bevölkerungsteils. Die Mehrheit der Juden zog es vor, in die Anonymität der Großstädte auszuweichen, da sie in kleine­ren Städten und Siedlungen wehrlos dem Übergriff der lokalen NSDAP und SA aus­gesetzt waren. Obwohl das gegen jüdische Gewerbetreibende, Einzelhändler und Handwerker verübte Unrecht jedermann bekannt war, verdrängten die meisten An­wohner ihr schlechtes Gewissen. Nur ver­einzelt kam es zu Gesten der Solidarität, die schwerlich die bittere Not abwenden konn­te, die die Zerstörung der bisherigen Exi­stenzgrundlage für die Juden in den meisten Fällen bedeutete.

Kennzeichnung der Juden wurde in der Bevölkerung kritisch aufgenommen

Nach Kriegsbeginn trat die »Judenfrage« im Bewusstsein der Öffentlichkeit völlig zu­rück, während die Juden im Reichsgebiet überwiegend zum Arbeitseinsatz herange­zogen und durch die Zwangsmitgliedschaft in der Reichsvereinigung indirekt von der Gestapo kontrolliert wurden. Erst die im September 1941 eingeführte Kennzeich­nungspflicht für Juden bewirkte, dass die Lage der jüdischen Mitbürger wieder eine gewisse Beachtung in der Öffentlichkeit fand. Die Kennzeichnung wurde von be­trächtlichen Teilen der Bevölkerung trotz entgegenstehender Aussagen in den Stim­mungsberichten des SD kritisch aufgenom­men, und anfänglich gab es vielfach Bestre­bungen der örtlichen Behörden, Übertre­tungen nicht zu verfolgen. Psychologisch enthielt die Einsicht, dass die betroffenen Juden gerade nicht dem vom »Stürmer« gezeichneten Klischee entsprachen, ein Moment der Verunsicherung, wenn man von den blinden Rassenfanatikern absieht, denen niemand offen entgegenzutreten wagte. Namentlich im kirchlichen Raum rief die Anweisung des Regimes, für getaufte Juden getrennte Gottesdienste abzuhalten, Bestürzung hervor, zumal man nun nicht mehr daran vorbeikam, die Existenz jüdi­scher Gemeindeglieder zur Kenntnis zu nehmen.

Unruhe in der Bevölkerung bei der systematischen Deportation

Zu Unruhe in der Öffentlichkeit kam es jedoch, als die Deportationen deutscher Juden im Frühjahr 1942 systematisch fortge­setzt wurden, nachdem es im Oktober 1941 wegen erster Massenliquidierungen in Riga zu unerwünschten Indiskretionen gekom­men war, die Hermann Göring veranlassten, vorläufig weitere Deportationen zu untersa­gen. Der Abtransport der Juden vollzog sich vielfach unter den Augen der kommunalen Behörden. Auch konnte kein Zweifel beste­hen, dass die Juden ein Ungewisses, in jedem Fall hartes Schicksal erwartete. Dass es in Polen zu Teilliquidierungen gekommen war, hatte sich bei denjenigen, die kritisch einge­stellt waren, herumgesprochen. Dass die Verschickung in Arbeitslager in den Osten auf die planmäßige Liquidierung hinauslief, vermochten hingegen die wenigsten zu durchschauen. Die hohe Selbstmordrate unter den vor der Deportation stehenden Juden, die das Regime geheim zu halten suchte, die aber trotzdem bekannt wurde, ließ Schlimmes befürchten. Der Bevölke­rung war bewusst, dass die Juden ihr Vermö­gen einbüßten. Die zahllosen Gesuche um Überlassung jüdischen Wohnraums oder Mobiliars, die bei den Behörden eingingen, sprechen eine eindeutige Sprache. Im Ganzen vollzogen sich die Deportationen der jüdischen Bürger ohne nennenswerte Reaktionen der Mehrheitsbevölkerung. Immerhin lassen die SD-Berichte durch­schimmern, dass vielfach ein klares Un­rechtsbewusstsein vorhanden war, das sich häufig in der Kritik artikulierte, dass eine Abschiebung von älteren jüdischen Män­nern und Frauen, desgleichen jüdischen Kindern, doch überflüssig sei, weil sie »kei­ner Fliege ein Leid antun« könnten und ohnehin nicht lange zu leben hätten. Hin­ter dieser und ähnlichen Äußerungen ver­barg sich insofern das von der NS-Propaganda verbreitete Klischee des »jüdischen Untermenschen«, von dem man die weitge­hend assimilierten einheimischen Juden ausnahm, als man gleichzeitig die Herab­würdigung des Ostjudentums mit Gleichgül­tigkeit hinnahm. Es fällt auf, dass die Stim­mungsberichte des SD und ähnliche Mate­rialien, sofern sie überhaupt Reaktionen auf die Genozid-Politik enthalten, ausschließ­lich Stellungnahmen von Sympathisanten des Regimes wiedergeben. Die Meinung derjenigen, die die Judenverfolgung als sol­che ablehnten, findet darin keinen Nieder­schlag, obwohl es sich um eine relativ große Minderheit gehandelt haben muss. Gerade einfache Leute nahmen die tödliche Bedro­hung wahr, die die Rassenvernichtungspoli­tik auch für die nichtjüdischen Gruppen bedeutete und sich in der »Ausmerze«-Politik gegen angeblich Asoziale, Kranke und alte Menschen richtete. Dass sie sich nicht artikulierten, deutet auf den hohen Grad von Repression hin, die von der Gestapo, der Justiz und den Behörden ausgeübt wurde.

Antisemitische Schlagworte nur verbale Drohungen?

Es gibt zahlreiche und vielfach erschrecken­de Belege, die die Zustimmung von Teilen der Bevölkerung zu antisemitischen Maß­nahmen zum Inhalt haben. Daraus kann jedoch nicht unbedingt geschlossen werden, dass die Bereitschaft weit verbreitet war, sich aktiv gegen Juden zu engagieren. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung nahmen in dieser Frage eine überwiegend passive Hal­tung ein und erblickten in antisemitischen Schlagworten bloß verbale Drohungen. An­dererseits bewirkte der dissimilatorische Antisemitismus, der vor allem bei den besit­zenden Schichten vorherrschte, dass die vom Regime forcierte jüdische Auswanderung weithin als berechtigt angesehen wurde. Hingegen stießen die Bedingungen, unter denen sich Ausgrenzung und Deportierung des jüdischen Bevölkerungsteils vollzogen, vielfach auf Ablehnung. Gerüchte über die Ermordung der »abgesiedelten« Juden verdichteten sich jedoch erst verhältnismäßig spät, und sie wurden weitgehend verdrängt. Gleichwohl gab es ein gewisses Schuldbewusstsein, das anläss­lich des Bekanntwerdens der Morde von Katyn in den Vordergrund trat und mit der Befürchtung verknüpft wurde, die USA könnten mit ähnlichen Repressalien wie der Kennzeichnungspflicht antworten. Präzise Kenntnisse über den Vernichtungsprozess, der sich in Osteuropa vollzog, besaßen die wenigsten. Helmuth James von Moltke berichtete im März 1943, »mindestens neun Zehntel der Bevölkerung weiß nicht, dass wir Hunderttausende von Juden umgebracht haben. Man glaubt weiterhin, sie seien lediglich abgesondert worden und führten etwa dasselbe Leben wie zuvor, nur weiter im Osten, woher sie stammten, viel­leicht etwas armseliger, aber ohne Luftan­griffe«.

Wunschdenken, Verdrängung und moralische Indifferenz

Hinter der von Moltke geschilder­ten Einstellung verbargen sich Wunschden­ken, Verdrängung und moralische Indiffe­renz. Andererseits gelang es auch Moltke trotz seiner Tätigkeit für die Abwehr nicht, sich frühzeitig ein umfassendes Bild von der »Endlösungs«-Politik zu verschaffen. Obwohl eine Fülle von Einzelheiten durchsickerte und eine vergleichsweise große Gruppe von Funktionsträgern an der Durchführung der »Endlösung« mitwirkte, blieb der Gesamtzusammenhang des Geno­zid den meisten Zeitgenossen verborgen, und viele, die über einschlägige Informatio­nen verfügten, verdrängten die unbequeme Einsicht in ein Verbrechen, das in der Geschichte nicht Vergleichbares besaß. Die Ermordung von mehr als fünf Millionen jüdischer Menschen war nur möglich in dem Halbdunkel ungeklärter Verantwortlichkei­ten, in dem sich Deportation und Liquidie­rung vollzogen, und auf Grund der Abwe­senheit eines förmlichen Vernichtungsplans, der es erlaubt hätte, entgegenstehende re­gimeinterne Interessen zu artikulieren. Die »Endlösung« trieb vielmehr aus den selbst­ geschaffenen Zwängen der nationalsoziali­stischen Judenpolitik hervor, die indessen von Anfang an menschenverachtende Züge trug.‘ Indem es gelang, die jüdische Bevöl­kerung gesellschaftlich zu isolieren und in eine ausweglose Pariarolle hineinzuzwingen, waren die psychologischen Vorausset­zungen dafür geschaffen, dass der Schritt zur physischen Vernichtung begangen werden konnte, ohne dass sich ernstlicher Wider­stand dagegen regte und – anders als im Fall der Euthanasie – öffentliche Proteste auf­traten. Das Klima des antibolschewistischen »Rassenvernichtungskrieges« gegen die Sowjetunion kam als begünstigender Faktor hinzu.

Geheimhaltung der Todeslager ist kein Freibrief für die Deutschen

Die Frage, ob die Mehrheit der Deutschen, so wenig sie den extremen Antisemitismus billigte, sich gleichwohl durch ausbleiben­den Protest zum Komplizen gemacht hat, ist nicht eindeutig zu beantworten. Es wäre verfehlt, den »kleinen Mann auf der Straße« verantwortlich zu machen, der, wie die überlieferten Berichte zeigen, vielfach realisti­scher die Mordaktionen des Regimes und den Unrechtscharakter wahrnahm, als das für die hohen Positionsinhaber galt. Die Frage, ob die Kirchen selbst auf das Risiko eines unaufhebbaren Konflikts mit dem Regime hin die Genozidpolitik, über die sie, wenngleich relativ spät, bemerkenswert früh und präzise informiert waren, hätten aufdecken müssen, ist bis heute umstritten. Dass die führenden Eliten in der Wehrmacht und im Staatsapparat die Verantwortung, wie schon während des Regimes, nicht ein­fach auf Heinrich Himmler und seine SS-Schergen abwälzen können, liegt auf der Hand.

Die mehr oder minder geglückte Geheim­haltung der Realität der Vernichtungslager bedeutet jedoch keinen moralischen Freibrief für die Deutschen insgesamt. Die Entrechtung und Diskriminierung, die letzten Endes in die Vernichtung hineinführte, vollzog sich in aller Öffentlichkeit. Der Wetteifer der Ministerien und Behörden, diskriminierende Vorschriften gegen Juden zu erlassen und deren Lebensraum rück­sichtslos einzuschränken, schlägt sich im jedermann zugänglichen Reichsgesetzblatt nieder. – Es bedurfte nicht erst der Ein­führung des Judensterns, um den Zeitgenos­sen bewusst zu machen, dass die Politik des Regimes darauf hinauslief, die Juden, wor­auf Hannah Arendt hingewiesen hat, als »Vogelfreie« einer noch niedrigeren Kate­gorie als der des gewöhnlichen Verbrechers zuzuordnen. Schlimmer konnte die mut­willige Auflösung der Symbiose zwischen Juden und Christen in Deutschland nicht ausfallen. Der Davidstern steht als Symbol dafür, dass das, was mit religiöser und sozia­ler Ausgrenzung beginnt, gewöhnlich im Verbrechen gegen den Menschen endet.

Entnommen: Wolf Stegemann/Johanna Eichmann „Der Davidstern- Zeichen der Schmach – Symbol der Hoffnung“, Dorsten 1991
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