Von Wolf Stegemann
Der Deutsche Volkssturm war eine militärische Formation in der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Gemäß den propagandistischen Aufrufen der NSDAP zum Durchhalten bis zum Endsieg wurde der Volkssturm aus allen „waffenfähigen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren“ gebildet, um den „Heimatboden“ des Deutschen Reiches zu verteidigen, „bis ein die Zukunft Deutschlands und seiner Verbündeten und damit Europas sichernder Frieden gewährleistet“ sei. Ziel des Aufrufs war es, die Truppen der Wehrmacht zu verstärken. Die Bildung des Deutschen Volkssturms wurde am 25. September 1944 durch Führererlass aufgestellt und am 18. Oktober 1944, dem 131. Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig, publik gemacht Dadurch konnten erste Volkssturmverbände propagandawirksam vorgeführt werden. Die NSDAP-Gauleiter wurden mit Aufbau und Führung des Volkssturms betraut. Die Rekrutierung erfolgte durch die Ortsgruppen.
SA-Stabschef Wilhelm Scheppmann wurde Inspekteur für die Schützenausbildung des Volkssturms, NSKK-Korpsführer Erwin Kraus Inspekteur für die Kraftfahrerausbildung, SS-Reichsführer Heinrich Himmler übernahm als Befehlshaber des Ersatzheers die militärische Organisation (Ausbildung, Ausrüstung, Bewaffnung), Reichsleiter Martin Bormann die Rekrutierung und politische Führung, Im November 1944 wurde der Volkssturm militärisch der Wehrmacht unterstellt, ohne ihr anzugehören. Die Politischen Leiter nahmen diese Regelung aber inoffiziell nicht zur Kenntnis, denn der Volkssturm sollte weiterhin unter Führung der NSDAP-Kreis- und Ortsleitungen kämpfen, beispielsweise in Dörfern, wo es keine Wehrmacht gab.
Rund 700 zusammengewürfelte Volkssturm-Bataillone – nur Kanonenfutter
1944 gab es noch fünf Millionen „unabkömmlich“ (uk) gestellte Männer der Jahrgänge 1895 bis 1925. Damit gab es mehr uk-gestellte Wehrpflichtige als das Feldheer Soldaten hatte. Die Wehrmacht war im Spätsommer 1944 noch zehn Millionen Mann stark, davon 3,4 Millionen im Feldheer. Der Volkssturm sollte sich aus vier Aufgeboten zusammensetzen:
- Das erste Aufgebot erfasste alle zum Kampfeinsatz tauglichen Jahrgänge 1924 bis 1884 (der 20- bis 60-Jährigen), die keine lebenswichtige Funktion in der Heimat erfüllten. Der Einsatz außerhalb der Ortsgrenzen und Unterbringung der Einheiten in Gemeinschaftsunterkünften war vorgesehen (1,2 Millionen Mann).
- Das zweite Aufgebot erfasste die gleichen Jahrgänge wie das erste, die gemeinschafts- oder staatswichtige Funktionen in der Heimat erfüllten (2,8 Millionen).
- Das dritte Aufgebot erfasste die Jugendlichen der Jahrgänge 1925 bis 1928. In der Masse bestand dieses Aufgebot aus 16-jährigen HJ-Angehörigen. Dies waren zwar relativ wenige dafür aber umso fanatischere Kämpfer (0,6 Millionen).
- Das vierte Aufgebot im Februar 1945 erfasste alle zum Kampfeinsatz nicht tauglichen Jahrgänge, darunter auch körperlich Behinderte. Es wurden strengste Maßstäbe angelegt. Ärztliche Untersuchungen gab es keine. Daher gehörten zu diesem Aufgebot auch Männer, die beispielsweise Herzkrank waren oder TBC hatten (1,4 Millionen). Aber nur ein kleiner Teil dieser Volkssturmmänner kamen zum Einsatz.
In der Regel wurden zunächst nur die beiden ersten Aufgebote gebildet und aufgestellt. Mit dem Geburtsjahrgang 1928 kamen Jugendliche zum Volkssturm, die vollständig während der nationalsozialistischen Herrschaft sozialisiert worden waren. Siebzig Prozent des Jahrgangs meldeten sich freiwillig zum Waffendienst. Eine Verordnung des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) vom 5. März 1945 dehnte die Wehrpflicht grundsätzlich auf die männlichen Angehörigen des Jahrgangs 1929 aus .Wie viele Männer im Volkssturm Dienst taten, ist nicht bekannt. Oberst Hans Kissel, Chef des „Führungsstabes Deutscher Volkssturm beim Reichsführer SS“, schätzte, dass über 700 Volkssturm-Bataillone zu einem Einsatz mit Feindberührung kamen. Allerdings erreichten die Volkssturmeinheiten bei bereits empfindlichem Material- und Munitionsmangel keinen befriedigenden Kampfwert mehr, erlitten aber bei der erbitterten Verteidigung im Osten gegen die Rote Armee erhebliche Verluste und wurden nicht selten in ihren feldgrau umgefärbten Parteiuniformen trotz der Binde mit der Aufschrift „Deutscher Volkssturm – Wehrmacht“ vom Gegner wie Partisanen behandelt.
Der kriegsrechtliche Status des Volkssturms
In rechtlicher Hinsicht waren die Angehörigen des Volkssturms während ihrer Einsätze Soldaten im Sinne des deutschen Wehrgesetzes von 1935. Dieses Gesetz ermöglichte es, den Kreis der Wehrpflichtigen auch über das 45. Lebensjahr hinaus auszudehnen, um weitere Reserven zur Reichsverteidigung aufzubieten. Doch war die Rechtsstellung des Volkssturms nach der Haager Landkriegsordnung (HLKO) nicht eindeutig. Als nationale Miliz hätte der Volkssturm einzig unter Befehl der nationalen Streitkräfte (Wehrmacht) stehen müssen. Die Westalliierten erklärten, die Volkssturmangehörigen als Kombattanten behandeln zu wollen, wenn sie ihre Waffen offen tragen, einheitlich gekennzeichnet wären und sich an das Kriegsrecht halten würden. Die UdSSR verweigerte die Anerkennung des Volkssturms als nationale Miliz überhaupt, behandelte im Verband der Wehrmacht kämpfende kriegsgefangene Volkssturmmänner aber wie Soldaten. Allerdings haben die Sowjets Volkssturmmänner auch als Partisanen behandelt und erschossen. Dies entsprach den gültigen kriegsrechtlichen Bestimmungen nach der Haager Landkriegs-Ordnung (HLKO).
Fehlende Uniformierung, mangelhafte Bewaffnung und Ausrüstung
Nach dem Volkssturm-Erlass sollten die Volkssturmeinheiten einheitliche Uniformen und amtlich gestempelte gelbe Armbinden tragen, mit Soldbüchern oder Kombattantenausweisen ausgestattet werden. Weder einheitliche Uniformierung noch Dokumente waren vorhanden. Daher wurden alle möglichen Uniformen, Armbinden und Ärmelstreifen getragen: SA-Uniformen, Hitlerjugend-Kluft, Uniformen der NSDAP-Organisationen u. v. a. Die Volkssturmmänner hatten Bekleidung und persönliche Ausrüstungen selber zu stellen. Es fehlte im Winter 1944/45 an Mänteln und festem Schuhwerk. Zeitweilig hatte nur jeder zehnte Volkssturmmann einen Wintermantel. Besonders ältere Volkssturmmänner litten an Erkältungskrankheiten. Die Gauleiter waren daran interessiert, ihren Volkssturm als Parteimiliz zu organisieren, einheitlich zu uniformieren und möglichst gut auszurüsten. Die Partei versuchte alles, um an Uniformen und Stoffe zu kommen: NSDAP-Funktionäre plünderten Lager der Wehrmacht und beschlagnahmten widerrechtlich bei Textilfirmen, stellten sogar gefälschte Fliegerschadenscheine aus, bestellten Tuche auf dem italienischen Schwarzmarkt.
Das entwickelte Volksgewehr war untauglich
Bei dem Massenaufgebot von sechs Millionen Mann stellte sich die Frage der Bewaffnung und Ausrüstung schon in der Planungsphase. Die NSDAP und ihre Gliederungen verfügten zwar über begrenzte Bestände an Handfeuerwaffen, die und Beutewaffen, welche die Wehrmacht nicht haben wollte, sie reichten aber nicht aus, um sechs Millionen zu bewaffnen. Das eigens für den Volkssturm entwickelte „Volksgewehr“ und die „Volkspistole“, „zusammengebastelt“ mit Ersatzteilen anderer Waffen wie Revolver, Jagdgewehren, veralteten Karabinern (auch 19. Jahrhundert), waren für den Einsatz nur bedingt tauglich, wenn überhaupt. Lediglich die „Volksmaschinenpistole“ war zu gebrauchen. Die Panzerfaust war oft die einzige moderne Waffe der Volkssturmeinheiten. Schwere Waffen (Infanteriegeschütze usw.) waren kaum vorhanden. Deshalb wurden die schweren Volkssturmkompanien meist nicht aufgestellt.
Im Kriegshandwerk meist unerfahrene Parteibonzen hatten das Sagen
Die Partei betrachtete den Volkssturm als ihre Angelegenheit. Die Gauleiter waren bestrebt, ihren Volkssturm gegenüber der Wehrmacht zu vertreten. Dabei deckten sich die NSDAP-Gaue nicht mit den Wehrkreisen. Folglich traten öfter mehrere Gauleiter als Ansprechpartner der Wehrmacht auf. Einen größeren Truppenteil als das Volkssturmbataillon gab es nicht. Die Gauleiter waren aber bestrebt, möglichst in allen Kreisgebieten ein oder mehrere Kampfbataillone des 1. Aufgebots aufzustellen, die Bataillone in Brigaden oder Kampfgruppen zu organisieren, durch weitere Truppenteile und Einheiten (Transportbataillone, Volkssturmflak, Volkssturmartillerie usw.) zu verstärken, was meistens nicht gelang. Es gab nur fünf unterschiedliche Dienstgrade: Volkssturm-Mann, Gruppenführer, Zugführer, Kompanieführer und Bataillonsführer.
Einsatz in der Heimat und in den Grenzen
Ab Oktober 1944 wurde der Volkssturm zu Schanzarbeiten in Ostpreußen, ab Ende 1944 beim Ausbau der rückwärtigen Stellungen im Warthegau und am Westwall eingesetzt. Im Osten begleiteten Volkssturmeinheiten die Flüchtlingstrecks und evakuierte Betriebe. Auch am Westwall führte der Volkssturm Evakuierungen von Zivilisten durch. Dabei wurden Räumungen auch mit Gewalt durchgeführt. Zu den weiteren Aufgaben des Volkssturms gehörten Objektschutz und Gefangenenbewachung, Stadt- und Landwacht, Stellung von Sicherungsbesatzungen für ortsfeste PAK- und Artillerieeinheiten, Bewachung von Kriegsgefangenenlagern sowie von Gefangenen beim Arbeitseinsatz, Ortsverteidigung und Raumschutz (Panzerabwehr).
Hitler lehnte den Kampfeinsatz des Volkssturms außerhalb der Reichsgrenzen kategorisch ab. Im Oktober 1944 standen erste Volkssturmeinheiten in Ostpreußen im Kampfeinsatz gegen die Rote Armee. Bei der 170. Infanterie-Division standen im November 1944 insgesamt acht Volkssturmbataillone. Erst dann wurden die Volkssturmbataillone im Einsatzfall der Wehrmacht unterstellt. Mit Beginn der sowjetischen Offensive aus den Weichselbrückenköpfen am 13. Januar 1945 wurde der Volkssturm im Warthegau überrannt. In den nicht direkt bedrohten Heimatgebieten wurden 20 Volkssturmbataillone z.b.V. (zur besonderen Verfügung) aufgestellt. Nach der Ausbildung gingen die Feld-Bataillone an die Ostfront. Ende Januar 1945 trafen die ersten im Raum Küstrin/Frankfurt an der Oder ein. Manche Bataillone fuhren mit ihren Transportzügen direkt in die sowjetische Offensive hinein. Die Volkssturmeinheiten nahmen auf offener Strecke oder in den unter Beschuss liegenden Bahnhöfen sofort den Kampf gegen durchgebrochene Sowjetpanzer und Sowjetinfanterie auf. Nach dem Krieg wurden 175.000 Volkssturmmänner in den Vermisstenkarteien geführt, genaue Angaben über die Zahl der Gefallenen fehlen.
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Quellen: Franz W. Seidler: „Deutscher Volkssturm. Das letzte Aufgebot 1944/45“, München 1989. – Wikipedia, Online-Enzyklopädie (Artikelname, Abrufdatum, URL). – Friedemann Bedürftig: „Drittes Reich und Zweiter Weltkrieg. Das Lexikon“, Piper München/Zürich 2002.
Bildzeile: Kriegsversehrte Invaliden, Kinder in Uniform und Feldwebel ohne Munition: Der Ende 1944 einberufene Volkssturm war Hitlers wahnwitziger Versuch, den Vormarsch der übermächtigen Roten Armee aufzuhalten.