Die Synagoge im jüdischen Gemeindehaus in der Wiesenstraße – Haus des Gebetes und der Zuflucht

Die Wiesenstraße um 1925 mit dem jüdischen Gemeindehaus, in dem die Synagoge untergebracht war (weißes Giebelhaus in der Mitte des Bildes)

Von Wolf Stegemann

In dem jüdischen Gemeindehaus in der Wie­senstraße 24 befand sich bis zur Bombardierung der Stadt und Zerstörung des Hauses eine Synagoge, wenngleich sie in den letzten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft geschlos­sen war. Das Wort Synagoge stammt aus dem Grie­chischen und bedeutet allgemein „Versamm­lung“, „Vereinigung“. Doch ist hier die sich versammelnde jüdische Gemeinde und ihr Versammlungsort gemeint, das jüdische Gottesdienstgebäude (hebräisch: Beth hak-knesseth, jiddisch: Schul), zugleich auch Ort alltäglicher Versammlung.

Von außen unterschied sich das Haus nicht von den anderen Häusern in der Wiesen­straße. Es fügte sich in die Häuserzeile und das nachbarschaftliche Leben der dort ansässigen Poahlbürger gut ein. Mehr noch: das Leben, das in diesem Hause stattfand und von diesem Hause ausging, war voll in seine Umgebung integriert. Auch nach 1938, als jüdische Familien in ihrem Gemeinde­haus zusammengepfercht und gekennzeichnet wohnen mussten, fand immer ein Austausch von Informationen statt. Nachbarschaft­liche Hilfe kam den jüdischen Bürgern zugute, wenn auch heimlich.

Gemeindehaus mit Synagoge, Schule und Wohnungen

Das Haus selbst, wie damals üblich in Fach­werkbauweise errichtet, stammt offensicht­lich aus der Mitte des 18. Jahrhunderts und wird wohl das Wohnhaus eines begüterten Juden gewesen sein, der es den übrigen Dor­stener Juden als Versammlungsort und Schule zur Verfügung gestellt haben mag. Als nicht gesichert, aber als wahrscheinlich kann angenommen werden, dass es sich um das Wohnhaus der Familie Eisendrath gehandelt hat.

Hawdalabecher des Landrabbiners Abraham Sutro, 19. Jh., im Jüdischen Museum Westfalen

Schon im Herbst 1816 richtete die damals nur 32 Personen umfassende jüdische Gemeinde eine Schule ein. Ein Jahr vorher wurde Abraham Sutro von der Regierung zum Landrabbiner bestellt und war nun seel­sorgerlich auch für Dorsten zuständig, wo Samson Nathan Eisendrath dafür zu sorgen hatte, dass der Rabbiner zu seinem anteiligen Gelde kam. Schon im Jahre 1858 hatte die jüdische Schule 17 Schüler aufzunehmen, und als Religionslehrer stellte die Gemeinde den aus Lingen (Franken) stammenden Abraham Isaac an. Danach erteilte Lehrer Leopold Kamm aus Gemen und ab 1903 Gustav Bär aus Buer Religionsunterricht. Schließlich überprüfte der Regierungspräsi­dent regelmäßig den Religionsbesuch der Dorstener jüdischen Schulkinder und ließ sich bis 1933 vom Bürgermeister der Stadt regelmäßig Bericht erstatten.

Das jüdische Gemeindehaus war früher grün angestrichen, später erhielt es einen weißen Überputz. Betrat man das Gebäude durch die hohe Holztüre, lag rechts des Ganges ein Raum mit einem zur Wiesenstraße befindlichen Fenster. In diesem Zimmer war (zusammen mit dem gegenüberliegenden größeren Raum) um das Jahr 1914 der Dorstener Kaufmann Heinrich Michels untergebracht. Er handelte mit Weiß- und Manufakturwa­ren, gehörte aber nicht zur jüdischen Gemeinde. Jahre später hatte in dem Haus der Schreiner Huthmacher seine Werkstatt.

Noch bis zur Zerstörung des Hauses durch alliierte Bomben war an der Seitenwand eine diesbezügliche verblasste Werbeschrift erkennbar. Ab dem Jahre 1927 wohnte in dem Haus die Schneidermeister Wilhelm und Theodor Evers zur Miete, außerdem der Bergmann Heinrich Schliessing. Juden wohnten zu dieser Zeit nicht in ihrem Gemeindehaus. Sie hatten sicherlich für ihre Zwecke einen Schulraum reserviert, und die nach hinten liegende Synagoge war vom Wohn- und Geschäftsbetrieb der Mieter sowieso nicht berührt.

Gemeindehaus diente vor der Deportation als „Judenhaus“

Ab 1938 mussten in den unteren Räumen des Hauses Angehörige der jüdischen Familien Metzger und Ambrunn wohnen. Nach der Deportation zog der SS-Mann Wilhelm W. mit seiner großen Familie ein, der bis zur Bombardierung dort wohnen blieb.

Die Treppe am Ende des Hausganges führte zu so genannten Aufkammern, die zwischen 1938 und 1941 der Familie Metzger als Schlafräume dienten. Vor der Treppe machte der Gang einen Knick nach rechts und gleich wieder nach links und endete am hinteren Ende des Hauses, wo eine Tür in den Hinterhof hinausführte, der an die Höfe der Häuser an der Blindestraße (heute Ursu­lastraße) grenzte. Eine andere Tür ging rechts in einen Hof zur Nonnenstiege. Die Treppe führte auch hinauf in den ersten Stock. Dort befand sich die etwa 100 qm große Synagoge. Zudem gab es in diesem Stockwerk zwei Räume, die zur Wiesenstraße hin lagen. Auch diese Zimmer wur­den zwischen 1939 und 1941 von Familienan­gehörigen der Metzgers und Ambrunns bewohnt. Danach zog das mit dem SS-Mann befreundete Ehepaar L. in das Oberge­schoss. Bis 1939 bewohnte die jüdische Familie Minkel das Gemeindehaus. Josef Minkel starb im Februar 1939, und seine Tochter wanderte wenig später über Holland nach England aus.

Die Synagoge hatte vier Fenster, die rechts auf den Hof zur Nonnenstiege zeigten und teilweise über dem mit einem Glas über­dachten Hof des Nachbarhauses Maas-Potthoff lagen. Von den Potthoffschen Fenstern und vom Hof konnte man direkt in die Syna­goge blicken. Der Raum war schlicht einge­richtet. Links und rechts standen Sitzbänke und Stühle, vorne, an der Ostwand, befand sich ein großer Holztisch mit dem siebenarmigen Leuchter.

Hinter dem Tisch zierte ein großes Wandge­mälde die gesamte Breite des Raumes. Es zeigte in bunten Farben den Urvater Abra­ham mit geöffnetem Schoß und in den Saal blickend. Seine Stirn wies ein überdimensio­nales „Auge Gottes“ auf. Links und rechts des Bildes waren hebräische Schriftzeichen aufgemalt. In einer Vorhangnische, in einem Schrein, war die Thora verwahrt; an den Wänden hin­gen Kaftans. Hinter jeder Tür des Hauses waren kleine Metallröhrchen (Mesusa) angebracht, die die Gläu­bigen beim Verlassen des Zimmers an die Gebote erinnern sollten.

Die Synagoge zerstört und das Inventar verbrannt

In er Nacht zum 10. November 1938 drangen Mitglieder der Dorstener Hitlerjugend, des Bundes Deut­scher Mädel (BDM), SA- und SS-Männer mit großen Vorschlaghämmern und Brand­fackeln in das Haus ein, stürmten die Syna­goge und warfen alle Kultgegenstände und Sitzbänke durch die Fenster in den Hof zur Nonnenstiege. Das herausgeworfene Inventar wurde zum nahen Marktplatz geschleppt und verbrannt. Dabei zerstörten sie auch die Fensterrahmen und das Mauerwerk zwischen den Holzbal­ken des Fachwerkgebäudes. Danach nagel­ten sie den Raum mit Holzbohlen und Bret­tern zu. Die Synagoge blieb bis zur Bombar­dierung des Hauses am 22. März 1945 ver­schlossen.

Im August 1941 ging das der jüdischen Gemeinde gehörende Haus zwangsweise in das Eigentum der Reichs­vereinigung der Juden in Deutschland über, weil auch die Synagogengemeinde Dorsten e. V. der Reichsvereinigung eingegliedert worden war, die das Haus und Grundstück im März 1943, ein Jahr nach der Deportation der letzten Dorstener Juden, an die Stadt Dorsten „verkaufen“ musste.

Das Synagogengrundstück war ursprünglich 243 qm groß und ist nach dem Krieg in drei Grundstücke parzelliert. Diese Grund­stücke hat die Stadt Dorsten im Jahre 1954 zusammen mit Nachbargrundstücken an verschiedene Erwerber veräußert.

Tisa von der Schulenburg gestaltete Gedenktafel für ermordete Juden

Niederlegung von Blumen an der Gedenktafel am Alten Rathaus 1985; stehend: Michael Steentjes, Hans Fabian, Dirk Hartwich, Schülerin; Foto: Holger Steffe

Die Forschungsgruppe „Dorsten unterm Hakenkreuz“ stellte 1983 bei der Stadt Dorsten den Antrag, an dem Gebäude, wo früher die Synagoge stand, eine Gedenktafel anzubringen. Dies wurde von den privaten Eigentümern abgelehnt. Daher brachte die Forschungsgruppe eine von Tisa von der Schulenburg (Sr. Paula) gestaltete Gedenktafel am Alten Rathaus am Markt an, weil dort am 10. November das Synagogeninventar verbrannt wurde. 1997 wurde die Tafel wieder abgenommen und an der Stelle eine Geschichtstafel des Vereins für Orts- und Heimatkunde angebracht, die die Geschichte des Alten Rathauses erklärt. Nachdem die Gedenktafel für die ermordeten Juden der Stadt Dorsten jahrelang in einem Keller lag, wurde sie nach öffentlichem Druck der Dorstener Ratsfrau Petra Somberg-Romanski und Dirk Hartwich im Jahre 2008 an ein Haus in der Wiesenstraße angebracht. – Siehe dazu den Artikel „Jüdische Gedenktafel: Abmontiert und auf Druck wieder angebracht – Kommentar“.

 

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Ein Kommentar zu Die Synagoge im jüdischen Gemeindehaus in der Wiesenstraße – Haus des Gebetes und der Zuflucht

  1. Hallo,
    Kann ich bitte ein Exemplar vom Photo vom Wiessenstrasse bekommen für unser Projekt Stolpersteine Oude IJsselstreek in Holland? Die familie Rosenbaum kam nach Varsseveld und in unseres Buch möchten wir etwas mehr erzählen über Dorsten, wo er wohnte bis seine Flucht nach Holland im Jahr 1937.
    Vielen Dank bereits und Grüsse,

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