Erich Jacobs konnte 1941 mit seiner Familie gerade noch rechtzeitig Deutschland verlassen und in Kuba bzw. den USA eine neue Heimat finden. Dort schrieb er seine Erlebnisse auf mit dem Hinweis an seine Familie, diese erst nach seinem Tod zu lesen. Er starb 1973. Die Tochter Fredel, in den USA geboren, stellte freundlicherweise das Manuskript zur Verfügung, aus dem seine Erinnerungen an Recklinghausen in der Zeit von 1937 bis 1941 in mehreren Artikeln veröffentlicht sind. Es sind erschreckende Erinnerungen.
In Recklinghausen hatte ich etwa 35 Kinder in einem Raum. Sie hatten ein Alter von 6 bis 14 Jahren, im Alter von 6-14 Jahre. In anderen Schulen wären diese 35 Kinder im gleichen Alter und lernten die gleichen Dinge. Da die Kinder, die ich in Recklinghausen lehrte, unterschiedlichen Alters waren, musste ich ihnen zu gleicher Zeit verschiedene Themen beibringen. Wenn wir zum Beispiel Mathematik hatten, mussten die Kinder der ersten Klasse separat von den Kindern der zweiten Klasse unterrichtet werden. Diese aber auch getrennt von den Kindern der dritten und vierten Klasse, wie auch diese von der fünften und sechsten und diese wiederum von den Kindern der siebten und achten Klasse.
Das hieß, ich musste die 50 Minuten Unterricht in fünf Abschnitte unterteilen. Ich konnte dann jeden Abschnitt zehn Minuten lang lehren! Jeder Abschnitt bestand aus etwa sieben Kindern oder weniger. […] Es war sicherlich kein einfacher Unterricht, aber ich mochte es so! Was hatten die Kinder zu tun, wenn ihre 10 Minuten vorbei waren? […] Sie wussten, dass sie schriftlich zu arbeiten hätten, und ich betone, zu arbeiten – und nicht spielend die Zeit zu verschwenden! Ich hatte immer im Voraus schriftliche Arbeit für sie vorbereitet. […] All dies war nur durch die Beobachtung der strengsten Disziplin möglich. Die Kinder wussten, dass sie keine Fragen stellen durften, wenn sie nicht an der Reihe waren. Ihnen wurde nicht erlaubt, ihre Sitze zu verlassen. Sie nutzen die Pausen, um auf die Toilette zu gehen. Die Kinder verstanden es schnell, dass ich ihnen was beibringen und kein Polizist sein wollte.
Disziplin war für die Kinder sehr wichtig
Die Lehrer in Deutschland konnten einen Stock für die Bestrafung verwenden. Ich denke, dass ein deutscher Lehrer, wenn er ein guter Lehrer war, vor seiner Klasse mit dem Stock in der Hand stand, und damit alle fünf Minuten ein weiteres Kind seine „Mackes“ bekam! Während der vier Jahre, die ich in Recklinghausen lehrte, habe ich den Stock sehr selten benutzt, ich glaube, ich kann die Male, wo ich ihn gebrauchte, an meinen zehn Fingern abzählen. Ich verwendete nie den Stock, wenn ich wütend war. Die Kinder sollten nicht glauben, ihr Lehrer nutzt den Stock als Ventil für seine Wut. Ich verwendete den Stock nur, um eine sehr schlechte Tat zu bestrafen, wenn ein Kind gelogen oder betrogen hatte, bei sehr schlechtem Verhalten, bei anhaltender Faulheit. […] Für andere Straftaten gab es spezielle Hausaufgaben oder nach das Kommen in meine Wohnung am Nachmittag [gemeint: Nachsitzen]. Die Eltern sahen, wie ich die Kinder behandelte und waren sehr froh, dass ihre Kinder endlich einen Lehrer hatten, den sie respektierten. Eltern kamen oft zu mir und sagten „Mein Sohn verhält sich sehr schlecht zu Hause, bitte, bestrafen Sie ihn!“ […] Hier in Amerika ist der Lehrer eine Spiel-Sache für Eltern und Schüler, in Europa ist er eine Respektsperson. Eltern und Kinder würden ihn auf der Straße ehrfurchtsvoll grüßen und ihn mit „Herr Lehrer“ ansprechen!
Ich diktierte gleichzeitig den fünf Gruppen unterschiedliche Texte
Zurück zur jüdischen Schule in Recklinghausen. Jede Klasse hatte eine bestimmte Anzahl von Diktaten zu schreiben. Ich führte folgendes Schema ein: Die Diktate wurden zur gleichen Zeit geschrieben! Es waren die gleichen Gruppen wie in der Mathematik: Ich diktierte für fünf Gruppen gleichzeitig! Jeweils immer einen Satz. Dies alles war so nur bei strengster Disziplin möglich. Andere Themen wurden auch zusammen unterrichtet wie Naturgeschichte, Zoologie, Geographie, Geschichte, Singen, Zeichnen. Zu Beginn eines jeden Schuljahres hatte ich die Pflicht, dem Schulrat einen Stoff- und Zeitplan für die Klassen vorzulegen. Die Herstellung eines solchen Zeitplans erforderte viel Arbeit und Zeit. Ich hatte Glück, dass ich die alten Termine meines Vorgängers verwenden konnte. Der Schulrat war nicht daran interessiert, was ich in Hebräisch lehrte. […]
Zur Überraschung der Schüler auch Sportunterricht
Die Kinder waren sehr überrascht, als ich an einem der ersten Tage mit ihnen zum Sport in den Hof gegangen bin. Mein Vorgänger, der ein alter Mann war, lehrte den Kindern nie Gymnastik. Nun wollten sie ihren Augen nicht trauen, als sie sahen, dass ich zu dem Barren und der horizontalen Stange (Reck) ging, die auf dem Hof standen Ich zeigte ihnen einige Übungen! Ich war immer noch und war ein guter Turner. Und ich zeigte ihnen Frei-Übungen. Später sagten die Eltern zu mir: Als unser Kinder nach Hause kamen, waren sie erfüllt mit Begeisterung über ihren neuen Lehrer. Ich möchte erwähnen, dass ich während des Unterrichts immer einen langen weißen Kittel trug. Die Kinder waren darüber erstaunt, aber bald hatten sie sich daran gewöhnt. Ich trug diesen Kittel, um meine Anzüge zu schonen. Ein Anzug war immer schnell voller Kreide, die nicht auf einem weißen Kittel zu sehen war.
Wenn ich manchmal sehe, wie hier in Amerika Hausaufgaben von den Kindern gemacht werden, wie sie schmieren, wie leichtfertig sie ihre Arbeit tun, kann ich meinen Augen nicht trauen! Wie ist das möglich? Wie kann der Lehrer so etwas akzeptieren? Kein Kind hätte es gewagt, mir solche Arbeiten zu zeigen! Mit dem Rot-Stift würde eine große Linie quer über das Blatt der „wunderbaren“ Arbeit vorgenommen werden: Do it again für morgen! Eltern sagten mir: Mein Vorgänger Lehrer Plaut gab den Kindern selten Hausaufgaben auf, und wenn er sie aufgab, hatten die Kinder sie nicht gemacht. An meinem ersten Tag der Lehrer in Recklinghausen sagte ich den Kindern, dass sie jeden Tag Hausaufgaben in allen Fächern bekommen würden.
Auch Lehrer können irren und müssen das zugeben
Ich hatte bald herausgefunden, welche Kinder besonders begabt waren. Diese Kinder hatten ihre Arbeit schneller als die anderen beendet. Dann musste ich sie in eine andere Gruppe in der Schulklasse nehmen und mit ihnen studieren. […] Die begabten Kinder waren wirklich glücklich, dass sie endlich etwas gelernt hatten, sie mochten mich sehr, vor allem einige der Mädchen im Teenageralter. Meine liebe Frau Hetti wusste, wie sie mich liebten und für mich durchs Feuer gehen würden. Und ich mochte alle Kinder. Ich war froh, wenn ein neuer Tag in der Schule begann. Ich wartete schon zehn Minuten vor der ersten Lektion auf „meine“ Kinder. Ich konnte es nicht verstehen, wenn später, hier in Amerika, ein jüdischer Lehrer zu mir sagte: Ich bin immer in Angst, den Klassenraum zu betreten, denn ich weiß nie, was passieren wird, und ich bin froh, wenn der Tag vorbei geht, ohne dass mir etwas passierte!
Ich brachte etwas Neues in die Klasse: In Latein sagen wir „Errare humanum est“ (Irren ist menschlich). Auch wenn ich alle Kinder gleich zu behandeln versuchte, konnte es passieren (und es geschah), dass ich einen Fehler gemacht und ein Kind bestrafte, das dies nicht verdient hatte. Das Kind wagte in diesem Moment nicht, seinen Mund zu öffnen. Ich erzählte der Klasse: Wenn dies passieren sollte, dann hat das Kind das Recht, später zu mir zu kommen und mir die Situation zu erklären. Wenn ich sehe, dass ich etwas falsch gemacht habe, werde ich diesen Fehler wieder gut machen und dem Kind beim nächsten Mal die Strafe erlassen. Kinder sind sensibel, sie wissen genau, ob sie zu Recht oder zu Unrecht behandelt werden. Sie waren sehr glücklich, dass ich in dieser Art und Weise gehandelt und sie respektierten mein Handeln. Mein Vorgänger hatte die Kinder manchmal über den Kopf mit dem Schläger gehauen, Das habe ich nie gemacht. Die Kinder hatten Angst vor der Strafe, aber es gab keine Angst vor mir. Wenn Kinder sahen, dass sie in einer gerechten Weise behandelt werden, waren sie zufrieden, auch wenn sie eine Strafe bekamen. Wenn sie aber ungerecht behandelt werden, hassen sie die Person, die dies tut.
Schüler mussten über die jüdische Religion Bescheid wissen
Die Kinder mussten lernen, Deutsch und Hebräisch fließend zu lesen. Vor Pessach lernten sie die Songs der Haggada; nicht nur die Melodie, sondern auch die Worte. Es war wirklich ein Hano’oh (Vergnügen), sie zu hören. Sie waren auch in der Lage, einen Seder zu „führen“ und die Haggada zu erläutern. Ich glaube, dass es sehr wichtig war, dass die Kinder in der Schule lernen, wie man den Schabbat vorbereitet, eine Sukka (und um es zu schmücken), um Shalach Monos an Purim zu schicken, um Honig und einen süßen Apfel für Rosh Hashonoh vorzubereiten, die Dinge für Yom Kippur und Tisha B’Av vorzubereiten. Auf diese Weise übten sie das Judentum. In der Schule übte ich mit ihnen die verschiedenen Gebete. Ich machte es auch zur Pflicht für die Kinder, am Schabbat und an Feiertagen in die Synagoge zu gehen.
Meine Schulkinder haben in Recklinghausen viel in Hebräisch gelernt – nicht in Gemoroh oder Mishnayos, aber im allgemeinen Wissen. Als einige Eltern bemerkten, dass die Noten ihrer Kinder schlechter waren als die der anderen Kinder, baten sie mich, ihren Kindern Privatunterricht zu geben. Ich tat es. Auch meine liebe Hetti bekam einen privaten Schüler. h. Da die Eltern uns sehr gut bezahlten, hatten wir ein nettes Neben-Einkommen. 1941 inspizierte eine Dame der „Reichsvereinigung der Juden, Berlin“ alle hebräischen Schulen, zusammen mit Dr. Stern auch meine Schule in Recklinghausen. Während eines Vormittags nahmen sie am Unterricht teil und stellten Fragen. Am Ende sagte die Dame zu mir: „Ich habe schon viele Schulen inspiziert, ich muss Ihnen sagen, dass Ihre Schule die beste ist und dass Ihre Kinder das größte Wissen von allen haben.“ Ich war und ich bin sehr stolz auf diese Worte! Dr. Stern schrieb dies später in mein Zeugnis, das ich immer noch habe. – Und damit möchte ich dieses Kapitel über meinen Unterricht in Recklinghausen schließen.
_______________________________________________________________
Exkurs: Die Israelitische Volkschule in Recklinghausen
Nachdem sich 1824 in Recklinghausen Levi Michel (geboren 1776 im Fürstentum Lippe, in den Akten als Handelsmann, Lehrer und Gelehrter bezeichnet) niedergelassen hatte, erteilte er ohne Beaufsichtigung den jüdischen Kindern den Religionsunterricht. Hauptberuflich war Levi Michel Händler und versah nebenbei auch das Amt des Vorbeters.
In den ersten Jahren ihres Bestehens in Recklinghausen überstieg die Errichtung einer Privatschule die finanziellen Möglichkeiten der jüdischen Gemeinde. 1843 besuchten deshalb die schulpflichtigen jüdischen Kinder die christlichen Schulen in Recklinghausen. Die Juden mussten für ihre Kinder dasselbe Schulgeld wie die Christen bezahlen. Die Synagogengemeinde Recklinghausen unternahm in der Folgezeit mehrere Versuche, eine eigene Schule einzurichten. So wurde an das Gebäude der alten Synagoge an der Klosterstraße ein Schulraum angebaut, der allerdings unzureichend war. Erst 1904 gab die Stadt Recklinghausen der jüdischen Gemeinde Finanzierungszuschüsse mit der Auflage, innerhalb von zwei Jahren ein neues Schulgebäude zu errichten, da die Regierung Münster das bestehende Schulgebäude bemängelt hatte. 1908 konnte das neue Schulhaus an der Straße „Am Steintor 5“ eröffnet werden. Nach der Pensionierung des ersten Lehrers Tannebaum übernahm Lehrer Siegfried Plaut die Stelle, die bis zur Auflösung der Israelitischen Volkschule Erich Jacobs innehatte. Nach dem Novemberpogrom 1938 wurde in dem Schulhaus ein NS-Kindergarten eingerichtet, der Unterricht für jüdische Kinder wurde in das Haus Kellerstraße 19 verlegt. In der Nachkriegszeit vermietete die Stadt Recklinghausen das Gebäude an eine Wohnungsbaugesellschaft und Anfang der 1990er-Jahre hatte ein Deutsch-Türkischer Verein dort seine Bleibe. Nach lebhafter Diskussion um eigentumsrechtliche Fragen gab die Stadt das Haus 1997 wieder an die jüdische Kultusgemeinde zurück. Als „Rabbiner-Selig-Auerbach-Haus“ finden dort jüdische Veranstaltungen statt.
_____________________________________________________________
Weitere thematische Auszüge aus seinen Memoiren …
Erinnerungen Erich Jacobs’, jüdischer Lehrer in Recklinghausen: Ankunft in der jüdischen Gemeinde
Erinnerungen Erich Jacobs’, jüdischer Lehrer in Recklinghausen: November-Pogrom 1938 – Aus dem Bett geholt und blutend ins Gefängnis gebracht
Erinnerungen Erich Jacobs’, jüdischer Lehrer in Recklinghausen: Nach dem Pogrom – jüdische Schule, Jethros Geburt, Judenhäuser – das Leben geht weiter
Erinnerungen Erich Jacobs’, jüdischer Lehrer in Recklinghausen: Nach dem Tod der Mutter holte der Sohn den Sarg nach Recklinghausen
Erinnerungen Erich Jacobs’, jüdischer Lehrer in Recklinghausen: Letztmögliche Emigration über Spanien und Kuba in die USA. „Wir alle könnten ein ברכה sagen, dass wir frei waren!“
… und seinem Leben: