Von Wolf Stegemann
Um dem Schicksal der Kriegsgefangenen und Ostarbeiter nachgehen zu können, wollten Mitglieder der Forschungsgruppe „Dorsten unterm Hakenkreuz“ Einsieht nehmen in die im Standesamt aufbewahrten Sterbebücher, in denen nach § 38 des Personenstandsgesetzes vom 3. November 1937 die Todesursachen Verstorbener einzutragen waren. Heute unterliegen sie den strengen Bestimmungen des Datenschutzes. Die Forschungsgruppe beantragte am 30. Oktober 1983 beim Dorstener Standesbeamten die Einsicht in die Sterbebücher, um zu klären, wann und wie beispielsweise die Massengräber auf dem Holsterhausener Russenfriedhof „gefüllt“ worden sind. Der Standesbeamte gab den Antrag zur Prüfung an den Oberkreisdirektor des Kreises Recklinghausen als Untere Aufsichtsbehörde in Standesamtsangelegenheiten zur Prüfung und Entscheidung weiter. Der Oberkreisdirektor seinerseits überließ die Entscheidung unter Aktenzeichen 32/1 – 192-21-6 dem Amtsgericht Essen. Bevor Amtsrichter Bein ein Urteil fasste, bemühte er den Landesbeauftragten für den Datenschutz Nordrhein-Westfalen, Dr. Weyer, um ein Gutachten. Der Datenschutzbeauftragte kam zu dem Schluss, dass nur von Ehegatten, Vorfahren und Abkömmlingen der Toten Einsicht in die Sterbebücher genommen werden darf. „Andere Personen haben dann ein Recht auf Einsicht oder Durchsicht, wenn sie ein rechtliches Interesse glaubhaft machen.“
Ein rechtliches Interesse liegt nur dann vor, so Dr. Weyer weiter, wenn die Kenntnis der Personenstandsdaten eines anderen zur Verfolgung oder Wahrung von Rechten erforderlich ist. „Ein zeitgeschichtliches Forschungsinteresse ist zwar ein berechtigtes, aber kein rechtliches.“ Der Datenschutzbeauftragte schloss sein Gutachten mit einer Anmerkung in Richtung des Gesetzgebers:
„Ich verkenne nicht das Interesse der Allgemeinheit, die Zeit des Nationalsozialismus aufzuarbeiten und dabei auch das Schicksal der Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen der Vergessenheit zu entreißen. Für hierzu erforderliche Eingriffe in die grundrechtlich geschützte Rechts-Sphäre Betroffener muss jedoch zunächst der Gesetzgeber die bisher fehlende Rechtsgrundlage schaffen.“
Es ist makaber, diese Kommentierung sei erlaubt, dass die zwangsweise verschleppten Russen, die keine Rechte zu Lebzeiten hatten, im Tode geschützt sind vor der Aufdeckung ihres Schicksals. Amtsrichter Bein verkündete am 22. Februar 1984 unter Aktenzeichen Az. 75 III 48/ 83 den Beschluss:
„Die von der (Forschungsgruppe) beantragte Durchsicht der genannten Sterbebücher ist nicht zu gewähren, die beantragte Auskunft aus den Sterbebüchern ist nicht zu erteilen.“
Nachbemerkung: Dennoch konnte die Forschungsgruppe Auszüge aus Standesamtsregistern einsehen, aus denen Namen und Sterbedaten sowie Todesursachen der Ostarbeiter hervorgingen. Sie wurden von den Autoren der Forschungsgruppe veröffentlicht, weil sie sich verpflichtet fühlte, das Schicksal der vielen hier in Dorsten zu Tode gekommenen Arbeitssklaven nicht in verstaubten Aktenschränken weiterhin der geschützten Vergessenheit zu überlassen.