Über die Behandlung polnischer Soldaten jüdischer Herkunft in deutscher Gefangenschaft. Im Lager an der Schleuse waren auch jüdische Offiziere untergebracht

Karteikarte eines polnischen Kriegsgefangenen aus dem Dorstener Lager an der Schleuse (Oflag VI E)

W. St. – Mit Ausnahme von ein paar Seiten in Szymon Datners Buch „Die Wehrmacht und die Verbrechen gegen Kriegsgefangene der regulären Armeen während des Zweiten Weltkriegs“ (Zbrodnie Wehrmachtu na jencach wojennych w II wojnie swiatowej, Warschau, 1961) wurde dieses Thema von Historikern kaum erforscht. Es gibt wenig Material. Die polnische Armee hinterließ keine schriftlichen Aufzeichnungen über ihre Soldaten jüdischen Glaubens oder Abstammung. Die spärlichen Akten der polnischen Exil-Regierung in London sind kaum erwähnenswert. Sowjetische Dokumente sind immer noch nicht voll zugänglich. Material, das als Beweismittel für die „Nürnberger Prozesse“ verwendet wurde, ergab einige Hinweise zum Thema. Die Hauptquelle sind daher die Aufzeichnungen ehemaliger polnischer Kriegsgefangener – Juden und Nichtjuden – entweder unveröffentlicht in Archiven oder in Dokumentationen veröffentlicht.

Die Zahl der polnischen Kriegsgefangenen

Es gibt unterschiedliche Zahlen über die von Deutschen gefangen genommenen polnischen Soldaten. Eine vom „Oberkommando der Wehrmacht“ am 24. September 1939, also vor der polnischen Kapitulation herausgegebenen Verlautbarung beziffert die Zahl auf über 450.000, das Bulletin vom 6. Oktober 1939 auf über 700.000. Die polnische Exilregierung nannte im Jahr 1941 rund 694.000 Soldaten, darunter 30.000 Offiziere. Der Anteil der Juden in der polnischen Armee im September 1939 lag zwischen acht und zehn Prozent. Dies legt nahe, dass die Zahl der jüdischen Kriegsgefangenen zwischen 34.000 und 64.000 lag. Vertreter des polnischen Judentums nennen 61.000.

Kriegsgefangener Russe mit Judenstern; Foto: Bundesrachiv

Soldaten jüdischen Glaubens wurden ausgesondert

In der Enzyklopädie des Holocaust steht unter „Kriegsgefangene – jüdische Kriegsgefangene“:

„Während des Zweiten Weltkriegs gerieten ungefähr 200.000 jüdische Soldaten […] in deutsche Kriegsgefangenschaft. Die Behandlung […] hing in erster Linie davon ab, in welcher Armee sie dienten. Jüdische Soldaten der Streitkräfte der westlichen Länder […] wurden grundsätzlich nicht anders behandelt als andere Kriegsgefangene […] – abgesehen von einigen Versuchen, sie zu isolieren.“

Aus den Nachweisen der ehemaligen Kriegsgefangenen ist es unmöglich, einen einheitlichen Standard des Verhaltens der deutschen Soldaten und Bewacher zu erkennen. In vielen Fällen haben deutsche Soldaten „fair gehandelt“, während andere in mindestens ebenso vielen Fällen die polnischen und vor allem die jüdischen Gefangenen bereits schon bei der Gefangennahme besonders grausam behandelten. Deutsche Soldaten haben gefangene polnische Soldaten gefragt, erinnert sich Marian Nasielski, ob sie Jude seien. Habe dieser mit Nein geantwortet, rettete dies oft sein Leben. Bei Bejahung wurden sie anfangs meist sofort erschossen (Ringelblum-Archiv Warschau). Joseph Zelkowicz äußerte sich ähnlich: „Wir wurden in Gruppen von fünf Männern eingeteilt und marschierten entlang der Straße. Die Deutschen Bewacher warnten uns, dass, wenn jemand versuchen würde zu fliehen, wir alle in seiner Gruppe erschossen würden. Obwohl keiner versuchte zu entkommen, haben die Deutschen in die Gefangenengruppen hinein geschossen, einfach so. Die Verwundeten trugen wir mit uns.“

Polnische Kriegsgefangene 1941

Jozef Berger war einer der am 19. September 1939 nach der Niederlage bei Bzura gefangen genommenen Soldaten jüdischen Glaubens. Er gab nach dem Krieg zu Protokoll, dass unmittelbar nach der Kapitulation die Deutschen die kriegsgefangenen Soldaten nach Juden und Nichtjuden einteilten. Die Gruppe der Juden war 1.500 Mann stark. Ein deutscher Offizier beschuldigte die jüdischen Soldaten, dass sie Berlin erobern wollten. Die brutale Behandlung begann unverzüglich. Eine große Anzahl von Gefangenen, Juden und Nichtjuden, kamen in ein Fußball-Stadion und blieben dort für zehn Tage ohne Nahrung. Sie überlebten, weil ihnen Bewohner Lebensmittel über den Zaun warfen. Am 24. September behandelten die Deutschen die jüdischen Soldaten mit besonderer Brutalität und zwangen sie dazu, Latrinen mit bloßen Händen zu reinigen. Dann ging es auf eine zehntägige Bahnfahrt in verschlossenen Viehwaggons in ein Lager nach Rumänien. Soweit Jozef Berger.

Shlomo Sztrajcher berichtete Ähnliches über eine Sammelstelle für polnische Kriegsgefangene in einer Fabrik in Zyrardow. Die Deutschen ernannten Michal Mikulski, Stabsoffizier des 51. Infanterie-Regiments, zum Leiter des Lagers. Ihm wurde befohlen, die jüdischen Soldaten auszusondern. Er weigerte sich und erklärte, dass es nur Polen im Lager gebe. Sztrajcher erinnerte sich, dass Michal Mikulski wegen dieser Weigerung erschossen wurde.  Ein anderer, Moshe Alsiwicz, der am 28. September 1939 gefangen genommen wurde, berichtete später, dass auf dem Sammelplatz am Zambrow die Deutschen 250 polnische Soldaten jüdischer Herkunft erschossen hätten. Insgesamt waren 1.200 Kriegsgefangene versammelt.

Im Lager an der Schleuse am Kanal in Dorsten (hier das Bild nach dem Aufbau für die österreichische SA) waren polnische Offiziere eingesperrt.

In Kriegsgefangenenlager verbracht, darunter auch nach Dorsten

Jüdische Soldaten (nicht Offiziere) wurden in verschiedene Kriegsgefangenenlager (Stalag) verbracht:  Hohenstein (Ostpreußen),  II A Neu Brandenburg (Vorpommern), II B Hammerstein (Pommern),  II D Stargard (Pommern), III A, Luckenwalde (Region Berlin), VI A Hamer (Westfalen), VI C Rathorn (Westfalen), VI D Dortmund (Westfalen), VII A Moosburg (Bayern), XI A Altengrabow (bei Hannover), XII A Limburg (Region Wiesbaden), XII B Frankenthal (Region Wiesbaden), XIII D Nürnberg, XVII A Kaisersteinbruch (Region Wien), XVII B Pernau / Wels (Region Wien), XVII C Markt Pongau (Region Wien

Wachmannschaft im Lager an der Schleuse 1942; Archiv Biermann

Unterkunft und Verpflegung

Die überwiegende Mehrheit der jüdischen Kriegsgefangenen verbrachte den Winter 1939/40 in ungeheizten Zelten unter den Bedingungen einer starken Überbelegung und ohne Sanitäranlagen. Die Gefangenen wurden unzulänglich verpflegt und waren im Zustand ständigen Hungers. Nach den Berechnungen der polnischen Exil-Regierung in London betrug die Kalorienzufuhr täglich zwischen 2.200 und 2.400. Die polnischen Kriegsgefangenen erhielten etwa die folgenden täglichen Rationen: 30 g Fleisch, 350 g Brot, 150 g frisches Gemüse, 600 g Kartoffeln, 35 g Fett. Dazu heißt es im Bericht der Exil-Regierung: „Die unzureichenden Lebensmittelrationen [der Polnischen Kriegsgefangenen – W. St.] provozieren Gewichtsverlust oder Blähungen vor Hunger; die wässrige Suppe verursacht Magenbeschwerden [Durchfall], Infektionen der Blase und Skorbut.“ Die Rationen der jüdischen Kriegsgefangenen waren weitaus geringer. Dazu gibt es Nachweise im Archiv Ringelblum (Warschau).

Kriegsgefangene im Dorstener Lager an der Schleuse, 1941

In den Lagern wurde polnischer Antisemitismus geschürt

Die Position der jüdischen Kriegsgefangenen verschlimmerte sich durch das aggressive Verhalten einiger polnischer Gefangener, die in einigen Lagern regelrechte Pogrome gegen ihre jüdischen Kameraden veranstalteten. In einigen Lagern wurden den jüdischen Kriegsgefangenen ihre Stiefel weggenommen und sie gegen schlechte Schuhe ausgetauscht, die Wintermäntel gegen leichte Umhänge. „Dies erfüllte die Juden mit Verzagtheit. Einige rissen Löcher in ihre Mäntel, so dass sie niemand würde haben wollen“ (Archiv Ringelblum). Auch wurde den jüdischen Soldaten von ihren christlichen Kameraden Füllfederhalter und Brieftaschen abgenommen. In den Gefangenenlagern für polnische Offiziere (Oflag) waren auch rechtsradikale antisemitische Gruppierung tätig, welche andere Offiziere gegen die jüdischen Kameraden im Sinne des Antisemitismus aufhetzten (Obóz Narodowo-Radykalny – ONR). Darüber gibt es einen authentischen Bericht von Marian Palenkier:

„Leider war die Haltung der polnischen Offiziere gegenüber den Juden negativ und sogar feindselig. Da waren sehr wenige Ausnahmen. Ich wusste von nur einer Handvoll von Fällen, in denen nichtarische Offiziere Freundschaft mit Juden zeigten. Die Selbstverwaltung und die Masse der Häftlinge waren in der Behandlung der jüdischen Offiziere aber gute Kameraden.“

Brief eines polnischen Offizier nach Litzmannstadt (Polen)

Jozef Sohn-Sonecki berichtet über Dorsten

Die meisten polnischen Offiziere waren in den Lagern Waldenberg, Dorsten und Dössel untergebracht. In diesen Lagern wurden für jüdische Offiziere „Ghettos“ (Ringelblum-Archiv) gebildet, die meist in schmutzigen Hütten neben den Baracken hausen mussten. Ihre Situation war deutlich schlechter als die der anderen Offiziere. Der folgende Bericht über das Lager in Dorsten wurde von dem jüdischen Kriegsgefangenen Jozef Sohn-Sonecki, geschrieben, der im Lager an der Schleuse untergebracht war.

„Die schlimmste Hütte, die bis dahin als Werkstatt gedient hatte, wurde für die Offiziere jüdischen Ursprungs ausgeräumt. Sie hatte weder Wasser noch sanitäre Einrichtungen. Den Ärzten unter den jüdischen Offizieren wurde verboten, in der Krankenstation des Lagers zu arbeiten. Wegen der Grausamkeiten der Deutschen und auch der vom Antisemitismus beeinflussten polnischen Kameraden erlitten viele jüdische Offiziere schwere psychische Traumata.“

Im Lager an der Schleuse waren volksdeutsche Spione eingeschleust

Über den Einfluss, den die antisemitische ONR auf die gefangenen Offiziere im Lager an der Schleuse hatte, berichtet auch der Offizier Jozef Bohatkiewicz: „Die ONR Organisation hat sogar versucht, Kameraden zu boykottieren, die enge Beziehungen mit den jüdischen Offizierskameraden pflegten, die in speziellen Hütten untergebracht waren.“ Diese Aussage untermauerte ein anderer polnischer Offizier, Oberst Jan Rzepecki (Wspomnienia i przyczynki Geschichte czne, Warschau, 1956). Die ONR sei bekannt gewesen für lautstarke Propaganda. Sie habe einen großen Einfluss auf die jüngeren Offiziere der regulären Armee ausgeübt. Die Deutschen hätten ihre rassistischen Theorien für den alleinigen Zweck benutzt, Offiziere jüdischer Herkunft abzusondern. Die Faschisten unter den polnischen Kriegsgefangenen verhöhnten die Juden, griffen sie auch körperlich an und behandelten sie wie Ausgestoßene. Einer der schlimmen Anstifter dazu war der polnische Archäologe und
Ägyptologe Professor Kazimierz Michalowski. Einer der heftigsten Gegner dieser Haltung war der ältere Col. Szalewicz. Jozef Sohn-Sonecki schreibt über die Situation in der Offiziersmesse des Lagers an der Schleuse:

„Wir mussten sehr vorsichtig sein, wenn wir unsere Meinung anderen mitteilten, da Verräter im Lager waren. Diese Spione waren Volksdeutsche und als Informanten registriert. Sie erfuhren alles, was wir unvorsichtigerweise sagten. Diese Leute begannen ihre antisemitische Hetze, die stetig wuchs und auf besonders fruchtbaren Boden unter den jungen Offizieren fiel, die aus Posen und Pommern stammten. Eine andere Verrätergruppe namens ,Reporter‘ wurde von den Deutschen eingesetzt. Auch sie bereiteten mit antisemitischer Propaganda eine stete Disharmonie im Lager zwischen Offizieren  jüdischer und nichtjüdischer Abstammung.“

Grabstätte von Kazimierz Feldblum auf den Agatha-Friedhof; Foto: Wolf Stegemann

Kazimierz Feldblum, Christ mit jüdischer Herkunft, starb in Dorsten

1888 bis 1941 in Dorsten; polnischer Offizier. – Hin und wieder schmücken Blumen oder ein Kranz den Grabstein des polnischen Offiziers auf dem Ehrenplatz des Agatha-Friedhofs an der Gladbecker Straße immer dann, wenn der Sohn des Toten, Prof. Zbigniew Koczorowski, aus Warschau das Grab des Vaters besucht. 1993 war es das erste Mal. Der Sohn nahm im antisemitisch belasteten Nachkriegspolen den Namen seines Onkels an. Sein Vater Kazimierz Feldblum, geboren 1888, katholisch, war in Dorsten Kriegsgefangener und im Offizierslager (OFLAG VI E) an der Schleuse untergebracht, wo er am 9. März 1941 an einer doppelseitigen Lungenentzündung starb und in Dorsten bestattet wurde. Feldblum war Reserveoffizier in der polnischen Armee. Bei Kriegsbeginn tat er Dienst als Hauptmann und sicherte in Rumänien die Grenze. Nachdem Rumänien die Seiten gewechselt und sich dem Deutschen Reich politisch und militärisch angeschlossen hatte, wurde der Hauptmann als Kriegsgefangener interniert und über Österreich nach Deutschland gebracht. In Dorsten traf er – bereits von der Lungenentzündung todkrank gezeichnet – am 24. Februar 1941 ein. Zwei Wochen später starb er im Alter von 53 Jahren. Von Feldblums Tod benachrichtigten die deutschen Militärbehörden dessen Frau und schickten ihr den Ehering und persönliche Gegenstände zu. Von einem mitgefangenen Kameraden erhielt sie Fotos von der Beerdigung. – In  Dorsten fanden während des Kriegs 1.551 Menschen kriegs- und gewaltbedingt den Tod. Die meisten Opfer stammen aus Russland (788), 27 aus Polen (23 davon sind auf dem St. Agatha-Friedhof bestattet). Ukraine (7), Belgien (6), Lettland (6), Niederlande (3), Jugoslawien (3), Österreich (1), Unbekannte (2). Die Zahlen dürften aber höher sein.

Auflösung des Dorstener Lagers bei Kriegsende

Nach Besetzung der Stadt Dorsten durch amerikanische Truppen am 28. April 1945 wurden Listen veröffentlicht und der alliierten Kommission übergeben, auf denen die Namen der polnischen Offiziere standen, die im Oflag VI E, dem Lager an der Schleuse, bis dahin untergebracht waren.

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ONR – eine faschistische polnische Partei mit antisemitischer Rhetorik

ONR sind die Anfangsbuchstaben für Obóz Narodowo-Radykalny. Dieses „Nationalradikale Lager“ war eine polnische rechtsextreme, antisemitische, antikommunistische und nationalistische Partei. Gegründet wurde sie 1934 von zumeist jugendlichen Radikalen (Mitglieder zwischen 2.000 und 3.000). Im Juni 1934, nach dem Attentat auf Minister Bronislaw Pieracki, wurde die ONR-Führung inhaftiert und zwei Monate nach Gründung gegen die Partei ein Verbot verhängt. Sie operierte danach im Untergrund. Die Partei orientierte sich am italienischen Faschismus. Sie forderte Solidarität mit dem polnischen Kapital, die Überführung ausländischen und vor allem jüdischen Eigentums in die Hände polnischer Großkapitalisten und die Einführung antisemitischer Gesetze. Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Untergrund-Partei in verschiedenen Flügeln verstärkt tätig, einerseits als Widerstandsorganisation gegen die deutschen Besatzer und andererseits arbeiteten Gruppierungen der Partei mit den Nazis zusammen, da sie die Juden für den eigentlichen Feind Polens hielten. Am 15. April 2003 bestätigte das Gebietsgericht von Opole, dass die Vorkriegs-ONR eine „rechtsextreme Organisation [war], die antisemitische Rhetorik verwendete, sich öffentlich gegen die Regierung stellte und von faschistischen Ideen geleitet wurde“.

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Quellen: Listen von Kriegsgefangenen, YVA, M-2/116. – Ringelblum Archiv M-10/BH/17-1-1. – Anonymous testimony. The History of Wlodawa Jews in the Time of the Nazi Occupation, YVA, 0-33/49. – Testimony of Aryeh Helfgot, YVA, 0-3/2181. – W. Kowalczyk, S. Kotarski, et al., Nauczyciele w hitlerowskich obozach jericow podczas 11 wojny swiatowej, Warsaw, 1967. – Testimony of Marian Palenkier, YVA, 0-3/1287. – Jozef Sohn-Sonecki, Bylem jencem Wehrmachtu, Warsaw, 1956. – Jozef Bohatkiewicz, Oflag, Warsaw, 1971. – Anke Klapsing-Reich „Am Grab des Vaters“ in DZ vom 22. Mai 2008. – Ute Hildebrand-Schute „Tod eines Gefangenen“ in WAZ vom 22. Mai 2008.
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