Von Wolf Stegemann
Sie hießen Wladislaus oder Marija, Anna oder Roman, Borris oder Wladislawa. Es waren Männer und Frauen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren – gesund und kräftig, als man sie nach Deutschland holte. Hier starben sie an Unterernährung, Lungenentzündung, Vergiftung oder Grippe. Einige suchten den Freitod, andere wurden getötet. Ihre Grabsteine und die durch Bäume und Buschwerk verdeckten Gräber – manche davon Massengräber – auf dem so genannten Russenfriedhof in Holsterhausen legen Zeugnis ab von ihrem Tod. Von der Lage her gehört er zu Holsterhausen, territorial zu Wulfen-Sölten. Verwaltungszuständig war daher Wulfen, heute Dorsten.
Es gibt auch Kindergräber dort. Kaum geboren, begann für viele Säuglinge bereits das Sterben. „Sie litten an Unterernährung und waren schrecklich aufgebläht“, erinnert sich eine frühere Krankenschwester. „Sie starben wie die Fliegen.“ Nach ihrer Schätzung müssen es weit mehr gewesen sein, als standesamtlich festgehalten. „Sie wurden in Schuhkartons gelegt und kamen teilweise zu viert in ein Grab.“
Die Namen von 63 russischen Männern, Frauen und Kindern sind bekannt. 413 Tote liegen in den Massengräbern, die zum Teil erst durch Umbettung nach dem Kriege angelegt wurden. Die Forschungsgruppe Dorsten unterm Hakenkreuz, die u. a. auch die Geschichte der Fremdarbeiter in Dorsten erforscht und veröffentlicht hat („Dorsten unterm Hakenkreuz“) ließ 1985 am Russenfriedhof und an den russischen Grabfeldern anderer Friedhöfe im Stadtgebiet Bronzetafeln anbringen, die an das Leid dieser Menschen erinnern. Die Dorstener Künstlerin Tisa von der Schulenburg (Sr. Paula) hat die Tafeln entworfen. Mit einem ökumenischen Gedenkgottesdienst, an dem Bürgermeister, Stadtdirektor und andere Honoratioren der Stadt teilnahmen, weihte Pater Imekus von der russisch-orthodoxen Kirche (Herten) die Gedenktafel auf dem Friedhof in Holsterhausen.
Nach einem am 10. Oktober 1945 geschlossenen Vertrag zwischen dem sowjetischen Assistenten der Britischen 156. Infanterie-Brigade und dem Bürgermeister von Wulfen, Schwingenheuer, ist die Gemeinde Wulfen in die Pflicht genommen worden, den verwahrlosten Friedhof herzurichten, zu begrünen, einzuzäunen und die im Gemeindegebiet Wulfen verscharrten Russen umzubetten. Auch auf den Friedhöfen der Gemeinden im Zuständigkeitsbereich des Amtes Hervest-Dorsten waren Russen begraben worden. Die Gemeinde Wulfen musste nun vertragsgemäß die Überführung auf den Russenfriedhof sicherstellen. 1949 war die Umbettungsaktion beendet. Ein steinernes Denkmal, das die Alliierten ebenfalls forderten, beschreibt in kyrillischer Schrift den Ort: „Hier ruhen Sowjetbürger, welche in deutscher faschistischer Gefangenschaft in der Zeit von 1941 bis 1945 gestorben sind.“
Bereits am ersten Tag nach Abschluss des Vertrages beschwerte sich Wulfens Bürgermeister beim Amtsbürgermeister von Hervest-Dorsten, Desoi. Schwingenheuer mochte nicht einsehen, dass die stark verschuldete Gemeinde für den Unterhalt des im äußersten Zipfel Wulfener Gemeindegebietes gelegenen Friedhofes zu sorgen habe, der sieben Kilometer vom Ortskern entfernt liege. Schwingenheuer fand es ungerecht, dass alle anderen Gemeinden ihre „toten Ausländer“ in Wulfen bestatten können, so der Schlusssatz seines Beschwerdebriefes, der bei den Alliierten auf taube Ohren stieß. – Heute wird der Russenfriedhof ausschließlich von der Stadt Dorsten gepflegt. Jährlich zahlt der Regierungspräsident Münster keine 30 Euro Ruherechtsentschädigung an die (private) Eigentümerin des Grundstücks.
Nach dem Krieg Friedhofsschändung
Für kurze Zeit stand der Friedhof im Mittelpunkt polizeilicher Ermittlungsarbeit: Am 2. Mai 1946 erstattete der Vorsitzende der KPD-Ortsgruppe Holsterhausen, Franz Alex, Anzeige gegen Unbekannt. Er gab zu Protokoll:
„In der Zeit vom 25. bis 29. April ds. Js. ist der Grabstein für die gefallenen Bürger der Sowjetunion auf dem Russenfriedhof (…) stark beschädigt worden. U. a. wurde mit einem Meißel oder einem anderen Gegenstand der Sowjetstern herausgeschlagen. M. E. handelt es sich hier um die verwerfliche Tätigkeit einer aggressiven Gruppe und bitte ich, sofort entsprechende Ermittlungen anzustellen…“
Ein anderer Kommunist, der Anzeige erstattete, mutmaßte bei der Polizei:
„Über die Täterschaft kann ich keine näheren Angaben machen. Ich nehme jedoch bestimmt an, dass aufgrund der Radio- und Zeitungsmeldungen ehemalige Mitglieder der NSDAP oder der angeschlossenen Verbände das Grabmal beschädigt haben.“
Steht man in der Stille des Friedhofs zwischen den vergessenen Gräbern und denkt über das Leid und den erbärmlichen Tod der Menschen nach, dann fallen einem die Worte von Theodor Heuss ein, der sagte: „Vergessen ist eine Gnade und Gefahr zugleich.“