Nation der Denunzianten. Rolf Hochhuth stellt eine Verbindung zwischen der NS-Zeit und heute her

In der in der Schweiz erscheinenden „Weltwoche“ nahm der große Dramatiker Rolf Hochhuth 2007 die Schriftsteller Martin Walser und Siegfried Lenz sowie den Kabarettisten Dieter Hildebrandt gegen Vorwürfe von Historikern in Schutz, die behaupteten, dass die drei Genannten den Nationalsozialismus nahe gestanden hätten. Hochhuth damals 76 Jahre alt, war mit seinem ersten Stück „Der Stellvertreter“ weltberühmt geworden und gehört seitdem zu den bedeutendsten Autoren deutscher Sprache. Hochhuth ist seit 43 Jahren Wahlbasler. Rolf Hochhuth schreibt: Keineswegs haben wir uns seit der Nazi-Zeit geändert; wir sind genau die geblieben, die wir schon unterm Führer waren: die Nation der Denunzianten.

Jetzt greifen so genannte Historiker die drei Achtzigjährigen Hildebrandt, Lenz, Walser an, mit der albernen Behauptung, sie hätten bereits als Sechzehnjährige sich bemüht, NSDAP-Mitglieder zu werden. Diese Denunziation kann sich an Niedertracht sehen lassen neben jenen, die „unterm Führer“ für die Guillotine gereicht haben. Das Institut für Zeitgeschichte kann das Datum nennen: Hitlers Justizminister musste 1941 den Gerichten verbieten, Denunziationen nachzugehen, weil zu viele „Volksgenossen“ ihre Volksgenossen unters Fallbeil bringen wollten!

Die vier Alliierten Amerikaner, Briten, Franzosen, Russen haben nach ihrem Sieg 1945 keine Deutschen verfolgt, die Mitglieder der NSDAP waren – sofern die nicht auch Verbrechen an alliierten Soldaten oder Kriegsgefangenen begangen hatten. Sie hätten auch viel zu tun gehabt, da ja Hitlers Partei ihren millionenfachen Zulauf nur steuern konnte, weil sie zwei- oder dreimal einen Einstellungsstopp verhängte.

Das Verfolgen, was stets zur Hexenjagd wird, wenn es um Namhafte geht, holt jetzt jene Generation der Deutschen nach, die erst lange nach Hitlers Tod zur Welt kam, folglich absolut keine Gelegenheit hatte, seiner Partei beizutreten und daher mit einem reinen, weil niemals benutzten Gewissen lebt. Vor allem hat diese Generation keine Fantasie, sich vorzustellen, wie zum Beispiel einem 16- oder 17-Jährigen zumute war, wenn er Flakhelfer werden musste – ich komme auf dieses Beispiel, weil am 2. Juli in der Berliner Morgenpost anlässlich der angeblichen „Parteigenossen“ Hildebrandt, Lenz, Walser gegen die Flak­helfer in corpore so geschrieben wurde, als müssten die sich rechtfertigen.

Bin ich als Flakhelfer jetzt auch schuldig?- Als ich 12 Jahre alt war, 1943, wurde die ganze Schule in die Aula bestellt, um die Eschweger Obersekundaner feierlich «an die Flakgeschütze zu verabschieden», mit Deutschland- und Horst-Wessel-Lied. 14 Tage später wurden abermals alle Klassen in die Aula befohlen: Gestern Nacht waren von den 23 Schülern 18 gefallen, weil ein britischer Bombenteppich in Kassel diese Jungen an ihren Flakgeschützen getötet hatte. Nun mussten wir auch noch singen: „Ich hatt’ einen Kameraden“. Vierzigjährige „Historiker“ werden jetzt die Folgerung ziehen, ich hätte mich schuldig gemacht, weil ich damals mitgesungen habe.

Liest man die deutschen Zeitungen, so kann man kein Geschichtsbuch übers Dritte Reich mehr für seriös halten: Denn so häufig die Fakten stimmen – die Zeitumstände, die mindestens ebenso wichtig sind, werden wie in diesen Artikeln überhaupt nicht mitgeliefert. Nie wird gefragt, was ein 16- oder 19-Jähriger tun sollte, der zum Militär oder in die Partei «berufen» wurde – ich bin völlig überzeugt, dass Martin Walser recht hat, heute zu sagen, seine «Mitgliedschaft» sei ein Geschenk des Reichsjugendführers zu Hitlers Geburtstag gewesen. Denn warum auch bei Hildebrandt und Lenz der 20. April als Eintrittsdatum?

Hat einer derer, die aus purer Anzeigelust ihre Nase jetzt in diese Jauche stecken, auch nur eine Minute erübrigt für die Frage, was ein Junge, für die Partei oder SS «auserlesen», ­dagegen hätte sagen können? (Denn ab Mitte 1943 nahm die SS keineswegs mehr nur Freiwillige wie zuvor, sondern zog auch ein: Mein Vater bekam einen Wink von einem Kriegskameraden aus dem Ersten Weltkrieg, der jetzt Chef des Eschweger Wehrmeldeamtes war: So konnte sich zwei Stunden später mein Bruder freiwillig als Kradfahrer zur Infanterie melden und kam davon: Keiner seiner zur SS eingezogenen Mitschüler überlebte, entweder gefallen – sprich: zwecklos verheizt – oder als Gefangener ermordet. Denn auch die Alliierten ermordeten SS-Männer, da die SS damit angefangen hatte.)

Wer konnte sagen: „Ich mag nicht“? Ich wiederhole: Hätte ein Junge sagen können, dem Führer als „Parteigenosse“ zum Geburtstag geschenkt oder zur SS eingezogen: «Ich mag nicht»? Mindestens in eine Strafkompanie, statt in das reguläre Militär, wäre er eingezogen worden: was bekanntlich Todesstrafe auf Zeit bedeutete. Die 25- bis 40-Jährigen, die heute schreiben, was sie unter „Zeitgeschichte“ verstehen, sind daran zu erinnern, dass deutsche Wehrpflichtige im Kriege einer „Gerichtsbarkeit“ ausgeliefert waren, die zwanzig Bataillone, das sind zwanzigtausend Soldaten, zum Tode verurteilt hat – von denen mindestens fünfzehntausend tatsächlich ermordet wurden. Zum Vergleich: Die ehrenhafte kaiserliche Armee hat 1914/18 insgesamt vierzig Soldaten hingerichtet. Eisenhower ließ im Zweiten Weltkrieg einen – in Zahlen: 1 – Amerikaner hinrichten. Churchills britische Armee keinen.

Wir Deutschen sind also eingefleischte Denunzianten und veranstalten noch heute jedes zweite, dritte Jahr den Spaß einer Treibjagd auf namhafte Mitbürger.

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Quelle: Entnommen mit freundlicher Genehmigung „Weltwoche“ Nr. 28/2007
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