Rektor Joseph Kellner aus Holsterhausen versuchte 1945 sein Handeln zu rechtfertigen – Im seelischen Zwiespalt

Von Wolf Stegemann

2009 tauchte in Holsterhausen ein Dokument auf. Es ist ein Aufsatz, der in den Jahren 1945/46 verfasst wurde und die Zeit des Nationalsozialismus in Holsterhausen beschreibt. Es ist ein Stimmungsbericht. Autor ist der damalige Lehrer und Rektor Joseph Kellner, der auf 79 Schreibmaschinenseiten und in 87 Kapiteln die gesamte „Heimatgeschichte von Holsterhausen“ von der Entstehung der Heimaterde und der Eiszeit in vorgeschichtlicher Zeit über die Höfeordnung im Mittelalter und die verschiedenen Kriege der Neuzeit bis zum Ende des Nationalsozialismus beschreibt. Gedacht war dieses Manuskript als Anleitung für den Schulunterricht. So nennt er seinen Bericht im Untertitel „Stoffsammlung und Versuch einer Darstellung für den heimatkundlichen Unterricht“. Er widmete seine Arbeit „den Lehrern und Kindern der Bonifatiusschule“. Erstaunlich ist sein Stimmungsbericht über die nationalsozialistische Zeit, die Kellner schließlich als NSDAP-Mitglied und Sprachrohr von NS-Gedankengut erlebt und überlebt hatte.

Rektor Joseph Kellner 1933

Aus heutiger Sicht bedarf dieser hier im Wortlaut und ohne Kürzungen wiedergegebene Bericht einer kurzen Kommentierung. Ortsbezogene Fakten und Namen werden nicht genannt. Die Schilderung, zeitnah geschrieben für Schüler, liest sich streckenweise wie ein Weißwaschbericht: Schuld hatten andere, Nazis kamen von woanders her, den „dämonischen Mächten“ konnte man sich nicht entziehen, man ergab sich dem aufgezwungenen Schicksal, weil man sowieso keinen Widerstand leisten konnte, und einfacher Lehrer wollte man nicht ewig bleiben, wenn mit dem Parteibuch der Rektorposten winkte. Karriere war man schließlich der Familie schuldig! Die Verdrängung, dass man dabei war, dass man weggesehen oder es sogar befürwortet hat, wenn andere verfolgt wurden, dass man noch bis in den Untergang gejubelt und geschossen hat, war in den Jahren der Entnazifizierung, in der dieser Bericht verfasst worden war, kollektives Bewusstsein. Man stilisierte sich zum Opfer, fühlte sich von den Amerikanern plötzlich befreit und nicht besiegt.

Kellners Schilderung ist ein Zeitdokument, das Verdrängen und Umkehr dieser Generation nach Ende des Nationalsozialismus in sich birgt. Sicher ist es auch ein Versuch Kellners, sich vor den Schülern einer neuen Zeit zu rechtfertigen. Bemerkenswert ist dies auch deshalb, weil noch bis in die 1960er-Jahre des letzten Jahrhunderts hinein, der Nationalsozialismus nicht auf den Lehrplänen der Schulen stand. Da war Joseph Kellners „Versuch einer Darstellung“ für die Bonifatiusschule eine lobenswerte Ausnahme.

Kellners Darstellung

Sein Aufsatz „Die Zeit des Nationalsozialismus 1933/45 in Holsterhausen“ beginnt mit drei Feststellungen bzw. Thesen. Die damalige Rechtschreibung wurde bei dieser Wiedergabe beibehalten, die Zwischentitel wurden eingefügt:

  1. Zentrum, SPD und KPD waren bisher in unserem jungen Industrieort die Träger des politischen Volkswillens.
  2. Vom Vorhandensein der Hitlerbewegung war in Holsterhausen vor 1933 kaum etwas zu spüren, so daß die Revolution 1933 für viele Leute überraschend kam.
  3. Das Radio vermittelte über Nacht fast plötzlich die Reden der NSDAP-Führung, Militärmusik und Lieder aus Berlin mit lautem Getöse.

Braune Uniformen, Hakenkreuzfahnen, Aufmärsche der SA-Truppe und kleinen HJ-Gruppen von auswärts veränderten schlagartig das Straßenbild. Doch die meisten Einwohner verhielten sich ernst abwartend, auch wohl ratlos und misstrauisch warnend. Trotzdem erfolgte bald die Beflaggung der Schulgebäude. Die Farben der Flaggen an den Privathäusern zeigten während der Tage im Wechsel den Übergang von Schwarz-Rot-Gold über Schwarz-Weiß-Rot zum Hakenkreuz.

Bonifatiusschule in Holsterhausen

Eine der ersten Maßnahmen war die Schließung der „Freien Schule“, der Waldschule und die Amtsentsetzung der dort beschäftigten Lehrpersonen. Im Verfolg der sogenannten „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ wurden die bekannten anderen Gegner der NSDAP verdächtigt, eingeschüchtert und ebenfalls mit Amtsentsetzung bedroht, weshalb manche sich übereilt der NSDAP anschlossen, auch um den übrigen Beamten Schutz erwirken zu können und innerhalb der Bewegung den guten Geist zu retten und zu pflegen, so „den Stier bei den Hörnern zu fassen“. Doch mußten diese Pg’s bald erfahren, daß die Direktiven nicht von unten, sondern von oben übermächtig durchdringend erfolgten und aktiver Widerstand unmöglich wurde.

Da sah sich auch der beste Wille, die Dinge zum Guten zu wenden, bald an der Grenze angelangt. Dann blieb den Zahl- und Namenlosen nur noch das eine: ehrlich die Last zu tragen an dem Platz, an dem das Schicksal sie gestellt hatte. Ihr größter Jammer war das Bewußtsein, irgendwie trotz aller Bemühungen sich rein zu halten, doch der Arbeit dämonischer Mächte Vorschub zu leisten, die in den Schlachthäusern und Schinderhütten ihre niederen Leidenschaften befriedigten.

Es blieb die Bitterkeit, dass gar mancher von denen, die auf Feindesseite sich tödlich nahten, dem eigenen hohen Ziel „inniger verschworen war als gleich zur Seite die Kameraden, denen es dennoch die Treue zu halten galt“. (Nach Hubert Becher im Aufsatz: Ernst Jünger. Gestalt und Wandlung in den Stimmen der Zeit vom Dezember 1946.)

Einquartierungen von Soldaten in Schulen und Privathäusern

So war die Zeit des Hitlerregiments bei den ernstlich beobachtenden, gewissenhaft um die Zukunft besorgten Menschen angefüllt mit seelischer Zwiespalt, mit Unruhe und disharmonischen Spannungen, mit Unglücksahnungen, mit Furcht und Angst, je mehr der Krieg 1939 und schließlich der Zusammenbruch 1945 sich näherten.

Im Großen und Ganzen vollzogen sich „Machtergreifung“ und totale Erfassung und Durchdringung des öffentlichen wie privaten Lebens in Holsterhausen ähnlich den Vorgängen an andren Orten des Vaterlandes durch die bekannten Organisationen der NSDAP. Während der Wintermonate 1939/40 lagen die Schulen und Privathäuser voll Einquartierung. Als am 10. Mai 1940 die Offensive im Westen losbrach, erlebten wir den Überflug der deutschen Luftflotte nach Holland und Belgien. Die in der Folgezeit sich mehrenden Tag- und Nachtangriffe der Feindflugzeuge auf das rüstende Industriegebiet zeigten den südlichen Horizont Nacht für Nacht in Rauch und Flammen.

Flakscheinwerfer über Dorsten, wie sie Kellner beschreibt

Sirenenwarnungsgeheul, Kanonendonner der Heimatflakbatterien und die Scheinwerferlichtkegel gehörten 1943 und 1944 und Anfang 1945 zur täglichen gewohnten Selbstverständlichkeit. Nach der Invasion, 6. Juni 1944, rückte auch der Landkrieg der Heimat näher. Die Männer, die nicht in der Partei oder deren Organisationen waren, wurden zum Schanzen kommandiert und an die Hollandgrenze verschickt, wo sie die Schlacht bei Arnheim und das Heranrücken der gegnerischen Streitkräfte erlebten. Nach dem Zusammenbruch der Ardennenoffensive (Dez. 1944) nahmen Panzerformationen in Holsterhausen Quartier, um nach ihrer Neuordnung bald wieder in die Kriegslinie zu ziehen. Das Frontgetöse näherte sich immer mehr. Der Untergang von Wesel sandte Feuer und Rauch herüber und war furchtbar zu hören und anzusehen. Die Einwohner verbrachten die folgenden Tage wegen der fortgesetzten Fliegerangriffe in den Waldungen am Freudenberg, im Zechenbunker von Hervest-Dorsten oder auf Einzelgehöften im Luftschutzkeller, bis endlich in der Karwoche 1945 die Kriegswalze das Heimatgebiet überquerte. Es waren Amerikaner, die unsere Gegend durchzogen. Ein gutes Geschick hat Holsterhausen vor der Vernichtung bewahrt. Nur eine Bombenkette brachte Schaden an einigen Häusern, wobei leider auch einige Tote zu beklagen waren.

Ostarbeiter raubten Passanten aus

Die folgende seelische Erleichterung musste bald neuer Sorge und Bedrückung Platz machen. Freigewordene, in Lagern untergebrachte Ostarbeiter, Russen und Polen, lagerten sich bei Tage im Wald und raubten den Passanten Fahrräder, Uhren, Ringe und Geldbeträge. Nachts überfielen sie bandenweise Bauernhöfe, schlachteten Vieh ab und plünderten, bis endlich englische Militärpatrouillen dem Unwesen ein Ende machten und die Ausländer abtransportierten. Auch Plünderungen von Wohnungen durch Einheimische sind vorgekommen, daß die Todesstrafe angedroht werden mußte.

Den weiteren Fortgang der Kriegsereignisse in östlicher Richtung bis zur völligen Kapitulation konnte die Bevölkerung wegen des Versagens des Nachrichtendienstes nicht verfolgen. Als die ersten Nachrichten aus den KZ-Lägern anlangten, wurden sie von den Leuten tief erschüttert besprochen.

Während des Sommers 1945 kehrten die ersten Kriegsgefangenen, Bauern und Bergleute, zurück, abgemagert und von langer Wanderung matt und ermüdet. Die Eisenbahn lag still. Später erst verkehrten einzelne Züge, und nur langsam kam die Post wieder in Gang. Die Evakuierten trudelten wieder ein, einzeln und in Gruppen aus Ostwestfalen, Bückeburg und aus dem Sauerland. Das Bild der völlig zerstörten Innenstadt von Dorsten mit den vier gesprengten Brücken über Kanal und Lippe starrt uns als grausiges Andenken der letzten Tage des entsetzlichen Krieges entgegen.

Im Laufe des Jahres 1946 brachten die Eisenbahnzüge Massen von verarmten Flüchtlingen aus dem Osten. Helferinnen der Caritas und Inneren Mission halfen den alten Leuten, den Gebrechlichen und Kranken beim Aussteigen. Pferdewagen beförderten sie über die Holzbrücken zum Bahnhof Dorsten. Nun ist der Jammer erst recht groß.

Aus dem Durchleben der vergangenen Jahre ist jedem offenbar geworden: Das höchste Glück auf Erden: Friede! Das Schicksal der Völker hat sich untrennbar verflochten, und der Friede führt sie entweder höherer Ordnung oder wachsender Vernichtung zu (Ernst Jünger). Wir müssen arbeiten und nicht verzweifeln.

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