»Und neues Leben blüht aus den Ruinen« – Die Anfänge des Volksbildungswerks in Dorsten 1948

Der Hunger nach Bildung war nach dem Krieg groß

Von Wolf Stegemann

Wenngleich die Kultur im Leben der Men­schen des Dritten Reiches ein Bereich war, den das Regime trotz Scheiterhaufen und Verdikten nie ganz hatte gleichschalten kön­nen, verboten 1945 die Alliierten den Deut­schen dennoch jegliche Art von freier kultu­reller Meinungsäußerung. Drei Tage nach der Kapitulation erging die »Informations­kontrollvorschrift Nr. 1«. Presseveröffentlichungen, Film, Theater,  Musik- und Unterhaltungsveranstaltungen waren von einer Li­zenz, einer besonderen Genehmigung der al­liierten Besatzungsbehörden abhängig. Dies blieb in den westlichen Besatzungszonen bis 1949 so, obgleich schon bald deutsche Stellen an den Verfahren teilnehmen durften. Nichts schien die Deutschen nach der Stunde Null mehr zu faszinieren als Theater und Mu­sik. Das mag auch daran gelegen haben, dass der Geist, im Gegensatz zum Schinken, ohne Marken erhältlich war.

Schon das Jahr 1945 brachte trotz der Einschränkungen eine Blüte des Kulturlebens. Von den geistigen Knebeln der vergangenen Jahre befreit, holte man die bei der Bücherverbrennung versteckten Exemplare hervor. Literaten, die zwölf Jahre lang verbotenerweise für die Schublade geschrieben hatten, veröffentlich­ten ihre Texte. Schauspieler mit Auftrittsver­bot standen wieder auf provisorischen Büh­nen, tingelten durch die Provinz und wurden gefeiert. Zuschauer mussten warme Decken und Briketts mitbringen. Inge Meysel, Hel­mut Käutner, Rita Streich, Erna Sack, Wal­ter Gieseking sind Namen der ersten Stunde nach Null.

Eva Pankok mit ihren Eltern Hulda und Otto Pankok im Garten von Haus Esselt

Jetzt durften die anderen Künstler nicht mehr auftreten

Nun erhielten andere Künstler Auftrittsverbot; manche zogen es vor, erst einmal unterzutauchen, weil sie sich dazu hergegeben hatten, den Nationalsozialismus kulturell zu zieren. Ihre Namen sind nicht weniger bekannt: Gustaf Gründgens, Wer­ner Krauß, Grethe Weiser, Wilhelm Furtwängler, Heinz Rühmann, Hans Moser und viele andere. Während in der Sowjetzone die geistige Frei­heit nicht lange anhielt, förderten in den Westzonen alliierte »Kulturoffiziere« – nicht selten deutsche Emigranten – die Entfaltung geistiger Freiheit. Neben der Demokratie wurde auch diese von den Besatzungsmäch­ten verordnet. Die erste Düsseldorfer Aus­stellung mit Werken von Otto Pankok (Haus Esselt bei Schermbeck) zählte 2.600 Besu­cher, die 1947 eröffnete Ausstellung »Künst­lerbekenntnisse unserer Zeit« bereits 7.300. Die ersten Kultur-Veranstaltungen in Dor­sten fanden im Hedoli-Filmpalast in Hervest statt. Schon 1945 wurden erste Stimmen bei der Dorstener Verwaltung und später im Verwaltungsbeirat laut, eine »Kulturhalle« zu bauen. Die Firma Stewing bot sich hier an, und es entstand in der Lippestraße die so­ genannte Kulturhalle, hinter deren bedeutungsvollem Namen sich ein schlichtes Kino verbarg.

Kino und „Kulturhalle“ Stewing in der Lippestraße

In einem Kommentar der »Westfälischen Nachrichten« vom 29. Oktober 1947 wird be­klagt, dass es trotz mehrerer gut gelungener Veranstaltungen der Dorstener Kultur (Pfarrgemeinden boten schon früh vielfäl­tige Programme an) an einem straffen Auf­bau fehle. Ohne den – wenigstens vorläufig – kein richtiger Wiederaufbau des hiesigen Kulturlebens stattfinden könne.»Es war schon im vorigen Winter so, dass neben wertvollen Veranstaltungen die billigste Unterhaltungskunst sich breit machte und das wie­der niederriss, was eben mühsam aufgebaut worden war.« Ein Jahr später übernahm das Volksbildungswerk die »kulturelle Füh­rung«.

Dorstener Volksbildungswerk 1948 eröffnet

»Wissen und Wissenschaft sind nicht be­schlagnahmt und nicht bewirtschaftet. Jedem sollen sie zugänglich sein!« Mit diesen Worten eröffnete am 4. November 1948 Amtsdirektor Dr. Banke feierlich das »Dor­stener Volksbildungswerk« (Vorläufer der Volkshochschule), das »einen Beitrag zum geistigen Wiederaufbau und zum Ausgleich der sozialen Spannungen«, so Banke, leisten sollte. Bürgermeister Paul Schürholz be­tonte, dass es wesentlich darauf ankomme, auch die geistigen Aufbausteine in dieser Stadt zusammenzutragen und aufzuschich­ten, wenn die Zukunft wirklich tragend und glücklich sein solle. Im Mittelpunkt der Eröffnungsfeier in der Aula des Gymnasium Petrinum stand der Vortrag von Prof. Dr. Günther Küchenhoff über die »menschliche Existenz in Philoso­phie und Naturrecht«. Die musikalische Um­rahmung besorgte das »Collegium musicum« mit Werken von Fux und Gluck unter der Klavierführung von Hans Könkes. Der Sängerbund Dorsten unter der Leitung von Heinrich Krauel brachte Chorstücke von Beethoven und Mozart »in sorgsamer, wohl­temperierter Formung« dar. Heinrich Krauel war stellvertretender Berufsschuldirektor. Das Volksbildungswerk leitete er nebenamt­lich. Paul Fiege gehörte zu seinen amtlichen Mitarbeitern, der neben anderen Aufgaben in der Verwaltung auch den kulturellen Sek­tor mitbetreute. Krauel leitete auch den Kir­chenchor St. Agatha.

Dr. Günter Küchenhoff gehörte zu den Vortragenden in Dorsten

In neun Arbeitsgemeinschaften und Vorle­sungsreihen wurden anfangs die Themen be­handelt: griechische Literatur, Aufbau der Erdkruste (für junge Bergleute), Shakespea­res Tragödien, Wetterkunde, Handels-, Ge­sellschafts- und Wechselrecht, das Recht des Bergmanns, Einführung in grafische Techni­ken, praktischer Lautenspiel-Lehrgang und mu­sikalisches Laienbrevier. In 19 Kursen für Le­ben und Beruf waren sieben sprachliche Kurse enthalten, darunter Englisch, Franzö­sisch und Russisch. Im ersten Programmheft des Volksbildungs­werks für das Winterhalbjahr 1948/49 appel­lierte Krauel an die Dorstener Jugend, beim geistigen Aufbau nicht abseits zu stehen:

»Der Sinn für das Wahre, Schöne und Gute war uns Deutschen stets eigen und soll in die­ser Notzeit erst recht gepflegt werden. Trüm­mer genug erinnern auch in der verwüsteten Stadt Dorsten an unser grausiges Schicksal. Und neues Leben blüht aus den Ruinen – sorgen wir dafür, dass dem äußeren Aufbau in Dorsten auch der innere zur Seite stehe! Vor allem euch, ihr jungen Menschen, bitten wir besonders, beim geistigen Aufbau nicht unentschlossen zu verharren, sondern be­herzt zuzugreifen. Nehmt ihr in Anspruch, was wir euch bringen, dann sorgt ihr in eu­rem Beruf und in eurem geistigen Leben für eine Aussaat, die künftig reiche Früchte zei­tigen wird. Alles ist Saat und alles ist Ernte, denn was der Mensch säet, das wird er ern­ten; die Jugend aber ist die Zeit der Saat.«

Prof. Carl-Friedrich von Weizsäcker referierte in Dorsten; Foto: Bundesarchiv

250 Hörer beim Vortrag über Rainer Maria Rilke

Der Leiter der Volkshochschule heute könnte blass werden vor Neid, wenn man die Hörerzahlen damaliger Kultur-Veranstal­tungen mit denen von heute vergleicht. Bei­spielsweise besuchten im ersten Trimester des Jahres 1950 über 700 Dorstener drei Einzelveranstaltungen: Prof. von Weizsäcker (Göttingen) sprach über »Das Weltbild der heutigen Physik« (350 Hörer), der Dorste­ner Oberstudiendirektor Gerckens über »Rainer Maria Rilke« (250 Hörer) und der Gewerkschafter Dr. Fischer über »Stand und Entwicklung des Mitbestimmungsrechtes« (100 Hörer). In den Arbeitskreisen wurden Werke von ausländischen Dramatikern (Wilder, Williams, Eliot u. a.) behandelt. Große Reso­nanz fanden auch die Konzerte der Bochu­mer Sinfoniker (600 Besucher) und des Col­legium musicum (500 Besucher). Heimat­kundliche Vorträge allerdings fanden mit 22 Hörern nur wenig Anklang. Offensichtlich steckte den Dorstenern das von den Nazis propagierte Heimatgetümmel noch arg in den Knochen.

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