Von Wolf Stegemann
Als die Seele Rabbi Mecharschejas zur Ruhe einging, trugen die Dattelpalmen Dornen. Beim Tod Rabbi Hamnunas fielen Hagelsteine vom Himmel, und als der Rabbi Jaakow starb, sah man am Tag Sterne. Selbst Himmel und Erde trauerten über den Tod dieser Leuchten des Gesetzes.
Als im Oktober 1941 die in Dorsten beliebte Amalie Perlstein im hohen Alter starb, weinte eine kleine Gemeinde, die um das Grab stand und die Tote beneidet haben mochte: Sie hatte Demütigung und Verfolgung überstanden. Jüdische Bürger durften damals nicht in der Mitte von Straßen und Wegen gehen. So blieb der Trauergemeinde nichts anderes übrig, als verhärmt in schlotternden Mänteln mit dem gelben Judenstern an den Häusern gedrängt neben dem Wagen mit dem einfachen Holzsarg herzulaufen. Amalie Perlstein war die letzte Tote, die auf dem jüdischen Friedhof im Judenbusch (»Hasselbecke«), nahe der Marler Straße, beigesetzt worden war.
Stillstand ist eingetreten
Wer den alten, 1945 wiederhergestellten Friedhof betritt, der spürt, dass Schmerz und Trauer vergänglich sind zwischen Himmel und Erde. Von Dauer ist hingegen die endlose Ablösung des Lebens durch Eltern, Kinder und Kindeskinder. Doch hier ist diese Ablösung unterbrochen. Stillstand ist eingetreten. Das macht betroffen. Die Verlassenheit des Ortes dringt in die Seele des Besuchers. Hier ist mehr zu spüren als die Endgültigkeit des Todes. Die Natürlichkeit von ewigem Werden und Sterben bleibt diesem Ort versagt. Es ist kein Ort der sichtbaren Liebe der Hinterbliebenen, vielmehr ein Ort der endgültigen Endgültigkeit. Das umgibt ihn mit einem Geheimnis: dieser Ort ist ein befreiter Ort, eine kleine eigene Welt inmitten des kleinen Wäldchens, von dessen Bäumen im jährlichen Zeitenwandel die welken Blätter auf die Gräber fallen und von den städtischen Gärtnern wieder fortgenommen werden.
In dieser Nische der Zeit wirkt es merkwürdig windstill. Aus der Zeit scheint Raum geworden zu sein, hier dreht sich der Zeiger einer anderen Uhr. Keine Trauer, kein Schmerz ist zu spüren. In Stein gemeißelte Wut über das Unrecht und Leiden ist hier so fremd wie jeder Blumenschmuck. Das Beklemmende üblicher Friedhöfe fehlt: jene Mischung aus welkenden Kränzen und angeketteten Gießkannen, aus Neugier und geschäftigem Umhereilen schwarz gekleideter Frauen. Dieser Friedhof ruht in Frieden. Alles ist hier zu Einem geworden, Familiengeschichten zur Provinz-Geschichte: eine Oase der Ruhe, in der Leben und Tod und Stein und Pflanze seit langem verwachsen. Efeu, Gras und Laub bedecken die meisten der Gräber, verwitterten Steine und Stelen.
Im Jahre 1628 der erste Nachweis
Die jüdische Gemeinde Dorsten erwarb das heute etwa 1.500 qm große Grundstück im Jahre 1828 (eine andere Zahl sagt 1804), um dort einen Friedhof außerhalb der Stadt, am Rande der Lippewiesen, einzurichten. Ein Bericht in der Dorstener Volkszeitung aus dem Jahre 1932, der sich mit der jüdischen Gemeinde befasst, besagt aber, dass bereits schon 1750 ein jüdischer Friedhof angelegt wurde. Allerdings wohnten damals keine Juden in der Stadt, die den Friedhof hätten anlegen können. Richtig ist vielmehr, dass der Friedhof bedeutend älter ist. Der erste Nachweis ist in einer Verkaufsurkunde aus dem Jahre 1628 zu finden. Auch zu dieser Zeit hat es nachweislich keine Juden in Dorsten gegeben. Ihnen war die Ansiedlung in Städten des Kölner Erzbistums nicht erlaubt. Erst 1808 kamen die ersten Juden wieder nach Dorsten. Mutmaßlich hat es eine jüdische Gemeinde bereits im Mittelalter gegeben, die während der Pest-Pogrome des 13. und 14. Jahrhunderts in Westfalen ausgelöscht wurde – wie viele andere Gemeinden auch.
Hoffnung und Leid stehen eng beieinander
Das steinerne Eingangstor, das die Verwüstung 1938 und die der Jahre 1943 bis 1945 überstanden hat, wurde im Jahre 1910 bzw. 1922 mit Hilfe von Spenden nach Amerika ausgewanderter Gemeindemitglieder erbaut bzw. erneuert. Die ebenfalls noch erhaltenen Spendertafeln geben hiervon Zeugnis: »Meyer Wolf, geboren 26. Februar 1826 in Dorsten, gestorben 19. März 1913 in Chicago, ließ diesen Friedhof mit Mauer und Tor versehen im Jahre 1910. Sein Andenken sei gesegnet.« Die zweite Tafel: »Die Familien Meyer Wolf und Eisendrath, Chicago, haben im Jahre 1922 diesen Friedhof wieder herstellen lassen.«
Über 30 Gräber sind noch vorhanden, teils mit erneuerten Grabsteinen, teils mit verwitterten alten Steinen und hebräischen Schriftzeichen versehen. Im erkennbar ältesten Grab ist W. Eisendrath, gestorben am 23. Februar 1828, begraben; ein Familienangehöriger gleich daneben: Baruch Eisendrath, geboren am 8. Juli 1812, gestorben am 22. Schewat 5634. Andere hebräische Grabstein-Inschriften geben Zeugnis ab über den Verstorbenen: »Hier ruht der Kaufmann Ezechiel Heß, 1813 bis 1881, brav und ehrlich hielt er sich fern vom Bösen und tat viel Gutes«, oder »Hier ruht seine Ehefrau Bella Heß, geb. Meier, 1818 bis 1885, eine tüchtige Hausfrau voll Gottesfurcht, die Zierde ihres Mannes und die Leuchte ihrer Kinder«. Zeugnis der Tragödie ist der nach dem Kriege errichtete Grabstein von David Perlstein (1866 bis 1933):
»Ein braver und ehrlicher Mann. Hier ruht seine Frau Amalie Perlstein, geborene Voß, ihre Kinder deportiert: Hermann, Grete mit Ursula, Inge, Robert; Walter Perlstein, Hedy Perlstein und Kind; Hertha Perlstein.«
Steine haben die Zeit überdauert
Nach jüdischer Tradition darf niemand den Toten ihre Würde nehmen. Gräber sind unantastbar. Das war nicht immer so: 1938 wurde auch dieser Friedhof verwüstet. Zwischen 1943 und 1945 entfernte man die großen, schweren Eisentore.
»Haus des Lebens« nennt ein altes Wort der hebräischen Sprache den Friedhof und nicht »Haus des Todes«. Trotz aller Endgültigkeit dieses Ortes die Hoffnung. Die Steine haben die Zeiten überdauert. Viel Vergessen und wenig Ewigkeit werden von den Ästen der alten Bäume überschattet. Von der Ferne klingen Autogeräusche von der Marler Straße herüber und von dem nahen Spielplatz Kinderrufe. Ein wohltuendes Zeichen in dieser allumfassenden Ruhe.