Die Geschichte des Lagers an der Schleuse – Im Judenbusch robbten österreichische SA-Männer – Unterkunft für Soldaten, Kriegsgefangene, Flüchtlinge und Obdachlose

Blick von der Kanalschleuse auf das Übungslager der österreichischen SA

Von Maja Lendzian

SA-Stiefel österreichischer Prägung, Kno­belbecher aus der Kleiderkammer der Deut­schen Wehrmacht und lumpenumwickelte wund gelaufene Füße kriegsgefangener Po­len und Russen marschierten, schlichen, humpelten, stolperten durch den Eingang des Lagers an der Dorstener Schleuse. Die einen blieben einige Jahre, andere für immer.

Die ersten kamen aus Österreich und trafen am 28. März 1935 in Dorsten ein. Die Flüchtlinge, im Heimatland von der Polizei ver­folgt, wurden von den nationalsozialisti­schen Machthabern in Deutschland herzlich empfangen. Schließlich verfügten sie als österreichische SA-Männer über dieselbe Gesinnung und hatten im Juli 1934 bei einem missglückten Putsch den österreichischen Bundeskanzler Dollfuß ermordet. Die Unterbringung der »braunen Brüder« in Dorsten ließ sich die NSDAP eine Million Reichsmark kosten: Innerhalb von vier Wo­chen wurden elf Gebäude, den damals neue­sten Anforderungen entsprechend, aus Dor­stener Boden gestampft. Über die Errich­tung des Lagers war sich das Hilfswerk Nord-West (München) schnell mit den Vertretern der Lippestadt einig geworden, über das 69 Hektar große Gelände verfügte nunmehr die Reichsleitung der NSDAP.

Die österreichischen SA-Männer waren Proleten, sagten die Dorstener

Antisemitische Innenausmalung einer Lagerbaracke

Die Dorstener Altstädter aber haderten mit diesem Entschluss ihrer Stadtväter. Ein Poahlbürger fasst zusammen, was alle anderen über die österreichischen Lagerinsassen dachten: »Es waren Proleten.« Die Österrei­cher führten sich in der Tat nicht gut ein. Sie gaben ihre Visitenkarte als brutale Schläger ab. Ihre sportlichen Fähigkeiten in Sachen Handball reichten nicht aus, um dieses Anse­hen wieder aufzubessern. Streng kaserniert verbrachten sie die meiste Zeit im Lager an der Schleuse, während die Ehefrauen in der Stadt wohnten. Bei ihren Stippvisiten in der Altstadt legten sich die Österreicher nicht nur mit Zivilisten, son­dern auch mit Angehörigen der Wehrmacht an. Die Zusammenstöße wurden vom Sicherheitsdienst allerdings nicht an die Öffentlichkeit gebracht. Das Lagereinerlei wurde in den ersten Wochen ihres Dorstener »Flüchtlingsdaseins« durch den Besuch des früheren Stabschefs der SA Österreichs, Pg. Cohrs, unterbrochen. Am 29. Mai 1935 sprach der ausgewiesene Landsmann auf dem Dorste­ner Marktplatz. Zu Ehren des »österreichi­schen Vorkämpfers für ein Großdeutsch­land« hatte man  am Abend eine Kundgebung veranstaltet: Die SA-Standarte 273 entbot alle Männer des Sturmbanns 1, um den österreichischen Mitkämpfer zu »umjubeln«. Der Sturmbann trat im Lippe­tal an. Unter den Klängen des Spielmannzu­gs und der Sturmbannkapelle zog er zum Markt. Auch der »Stahlhelm« (damals noch nicht von der SA aufgesogen) erschien ebenso wie die Parteiangehörigen und NS-Gliederungen. Selbstverständliche Pflicht war das Erscheinen aller Deutsch-Österrei­cher (freiwillig nach Deutschland übersie­delte Österreicher), die auf dieser Veranstal­tung den Anstoß bekamen, ihren »Kampf­ring der Deutsch-Österreicher-Ortsgruppe Dorsten-Herrlichkeit« neu zu organisieren. Knapp drei Wochen nach dem hohen öster­reichischen NS-Funktionär traf wieder Flüchtlingsvolk in Gestalt des »Nationalsturms Nordwest« unter Führung des Sturm­bannführers Schmolly im Lager ein, wo sich von da an über 760 Insassen aufhielten.

Der Vorliebe der Österreicher für Lager­feuer und militärische Übungen im nahen Judenbusch verdankt dieses Gelände, in dem sich der später stark verwüstete jüdische Friedhof befand, eine kurzfristige inoffi­zielle Umbenennung in »Wiener Wald«. Offi­ziell dagegen benannte die Stadtverwaltung den Hammer Weg, an dem die Baracken der Österreicher standen, in »Straße der öster­reichischen Legion« um. Die Österreicher mischten fleißig bei Aufmärschen und Um­zügen der Dorstener SA mit, was die Anzahl der echten Dorstener Braununiformierten verfälschte.

Kirchenaustritte stifteten Verwirrung an

Verwirrung stifteten die Flüchtlinge auch in der Statistik von St. Agatha. 1937 wurde der Rekord von 402 Kirchenaustritten registriert. Jedoch nur 34 Dorstener Pfarrkinder distanzierten sich von Gott und St. Agatha. Bei den übrigen 368 Abtrünnigen handelte es sich um die katholischen Österreicher. Bis auf drei Kameraden, die in Dorsten den Schritt in die Ehe gewagt hatten, traten die braunen Flüchtlinge 1938 den Rückzug als Helden in heimatliche Gefilde an. Denn mit dem 13. März dieses Jahres war der An­schluss Österreichs ans Deutsche Reich be­siegelt worden.

Militär belegte die Baracken an der Schleuse

Die Ruhe, die im April 1938 im Lager ein­kehrte, passte den Dorstener Stadtvätern überhaupt nicht. Wegen der katastrophalen wirtschaftlichen Lage der Stadt bemühten sie sich beim Generalkommando VI in Mün­ster um baldige Belegung der Baracken an der Schleuse durch Soldaten der Wehrmacht. Auch diesmal wurde schnell eine Lösung ge­funden. Die Wehrmacht, um den nahem Krieg wissend, übernahm das SA-Lager, richtete es im Einvernehmen mit der Stadt­verwaltung als Ausbildungslager her und überstellte es dem Landwehr-Kommandeur Mülheim/Ruhr.

Ein Vorkommando des Heeres (1 Feldwebel mit 12 Mann) hielt am 18. Mai 1938 zunächst Einzug. Bis zur endgültigen militärischen Belegung durch den Landwehr-Komman­deur am 30. Juni 1938 wurden sechs Zivil­wächter zur Bewachung des Lagers ange­stellt. Der Dorstener Kaufmann Goetjes er­hielt den Posten des Zivillagerverwalters. Am 15. Februar 1939 war es soweit: Das Infanterieregiment 39 – rund 355 Offi­ziere, Unteroffiziere und Mannschaften – marschierte unter dem Befehl von Major Fi­scher (Adjutant Major Fiebig) in die neue »Zweigstelle Bocholt der Heeresstandortverwaltung Wesel, Übergangslager Dorsten« ein und nahm die großen Mannschafts­räume, Verwaltungs-, Küchen-, Verpflegungs- und Sanitätsbaracken in Beschlag. Dorsten wurde Standort.

Festlicher Empfang durch die Stadtspitze

Soldaten der Wehrmacht ziehen 1938 mit Musik in die Stadt und nehmen Quartier an der Schleuse

Mit Glockengeläut, Fahnenschmuck, Spa­lier bildenden Jugendlichen und NSDAP-Mannschaften sowie Begrüßungsreden des Bürgermeisters Dr. Gronover und der örtli­chen Parteibonzen wurde die Truppe am 22. März 1938 gebührend in Dorsten empfan­gen. Am Abend hatten ausgewählte Dorste­ner Bürger die Möglichkeit, mit den Solda­ten – es handelte sich um Landwehrleute äl­teren Jahrgangs – bei Dehne, Koop, Café Münsterland und im Stadtcafé Bekannt­schaften mit den Militärs zu schließen. Der Finanzierung eines abendlichen Begrü­ßungsumtrunks – Bier, Würstchen und Bröt­chen waren übrigens komplizierte »Etatbe­ratungen« vorausgegangen. Die krisenge­schüttelte Kleinstadt verfügte nur noch über spärlich gefüllte Kassen. So beschlossen die Vertreter des Handels und Gewerbes, die 600 Reichsmark, die der Empfang kostete, durch Spenden aufzubringen. Die Herren Schürholz und Gahlen erklärten sich sofort bereit, je 75 Reichsmark beizusteuern. Bäckermeister Bispeling spendete 50 RM, Metz­germeister Kohlmann 100 RM. Auf stur schalteten dagegen die Bierverleger und Gastwirte. Gastwirt Koop musste mitteilen, dass sich die Wirte in einer Versammlung nicht bereit erklärt hatten, auch nur eine Mark für den Begrüßungsabend springen zu lassen.

Bewachungspersonal des Kriegsgefangenenlagers an der Schleuse (Landesschützen)

Gefangenenlager OflagVI/E

Bei Ausbruch des Krieges, am 1. September 1939, beherbergte das Lager rund 200 Soldaten einer Landesschützenkompanie. Dann ging es an der Schleuse zu wie in einem Taubenschlag. Die Belegung wechselte oft, teil­weise täglich. Mal wurden 456 Infanteristen, mal 248 Telegrafenbauer einquartiert. 1940 funktionierte die Wehrmacht das Ausbildungslager kurzerhand in ein Gefangenenla­ger um. Die ersten Kriegsgefangenen trafen im Juni ein. Zu ihrer Bewachung wurde die 4. Kompanie des Landesschützenbataillons 461 abkommandiert. Auch diese 200 Mann starke Truppe fand Platz im Lager. Die 6. Kompanie des Landesschützenbataillons 488, ebenfalls für die Beaufsichtigung der Kriegsgefangenen geordert, wurde bei Dor­stener Bürgern untergebracht. Auf die neue Situation an der Schleuse, mit der die Stadt Dorsten vollkommen überrum­pelt worden war, reagierte die Stadtverwal­tung in einem verärgerten Brief an den Chef der Zivilverwaltung, den Oberpräsidenten der Provinz Westfalen: Sie monierte, dass der »mit erheblichen Mitteln chaussierte Zu­fahrtsweg« zum Lager durch schwere Rau­penschlepper der Wehrmacht völlig unpas­sierbar gemacht worden sei und pochte auf­grund der nun vertragswidrigen Nutzung des Lagers durch Kriegsgefangene und der eige­nen schlechten wirtschaftlichen Situation auf Entschädigung.

Im Oktober 1940 arbeiteten etwa 100 fran­zösische Kriegsgefangene im Lager an der Schleuse, um die Baracken auszubessern. 1.000 Offiziere und 300 Soldaten (Adju­tanten) sollten untergebracht werden. Ab Februar 1941 wurden polnische Offi­ziere einquartiert. Das Offizierslager er­hielt die Bezeichnung »Oflag VI/E«. Im März 1942 zog die Verwaltung des Stalag VI/F Bocholt in das Lager ein. Nunmehr führte das Lager die Bezeichnung »Oflag VI/F/Z (Z = Zweiglager) Dorsten«. Ende 1942 trafen die ersten 1.000 sowjetischen Kriegsgefangenen ein. Die Stadt Dorsten wurde aufgefordert, umgehend einen Friedhof „für etwa 2.000 Russen“ anzulegen, der dann an der südlichen Grenze zwischen Wulfen und Holsterhausen entstand und heute als »Russenfriedhof« gegenüber dem Kommunalfriedhof in Holsterhausen bekannt ist.

Nach 1945 Ost-Flüchtlinge und Obdachlose in den Baracken

Flüchtlingshabe

Nach dem Kriege lebten in den Baracken Flüchtlinge aus den verlorenen Ostgebieten. Dorstener Obdachlose waren die nächste Gruppe, die im Lager Schleuse unterge­bracht wurde. Wenn auch in den 70er Jahren bis auf zwei Baracken die anderen abgeris­sen worden sind, dienen die Restbauten der ehemaligen österreichischen SA heute noch als Obdachlosnunterkünfte. Somit hat die »Schleuse« bis zum heutigen Tage niemals den Nimbus von Behelfsmäßigkeit verloren.

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6 Kommentare zu Die Geschichte des Lagers an der Schleuse – Im Judenbusch robbten österreichische SA-Männer – Unterkunft für Soldaten, Kriegsgefangene, Flüchtlinge und Obdachlose

  1. Marc van Aalst sagt:

    Hallo,
    Ein Onkel von meinem Mutter hat hier in Hervest/Dorsten als verwundeten Hollandischen Kriegsgefangenen verblieben. Wissen sie wo die Stelle war für Holländische Kriegsgefangenen? Er war verwundet auf die Grebbeberg in die Nähe von Wageningen 11 bis 14 Mai 1940.

  2. Ilja Luciani sagt:

    Hallo! Mein Opa (Unteroffizier in der italienischen Armee) wurde nach seiner Verhaftung durch die Wehrmacht in Athen am 9. 9. 1943 nach Dorsten transportiert. Nach meinen Informationen:
    In Dorsten hat es zwei eigenständige Kriegsgefangenenlager gegeben: Ofalg VI/E Dorsten (Lager an der Schleuse) und M-Stalag VI/J Fichtenhain Krefeld mit Zweiglager Dorsten. Ist es möglich, zu erfahren, wo die Baracken der italienischen Militärinternierten (Zwangsarbeiter) waren oder existieren überhaupt noch Unterlagen zu ihrem Aufenthalt (Lagerpläne, Personenlisten usw.)? Ich suche nach Pietro Luciani, Gefangener Nr. 6695.
    Mit freundlichen Grüßen,
    Ilja Luciani
    Anmerkung der Redaktion: Italienische Kriegsgefangene waren in der heutigen Siedlung Tönsholt untergebracht. Weitere Informationen sind an Sie unterwegs!

  3. Doris Mair sagt:

    Meine Eltern kamen 1956 als Flüchtlinge in das Lager an der Schleuse. Ich war 10 Monate alt. Wir lebten bis 1973 dort am Hammerweg 19. Meine Mutter war in dieser Zeit bei der Amtsverwaltung Dorsten tätig. Als meine Tochter kürzlich im Internet nach Dorsten / Schleuse suchte und ich diese Artikel sah, war ich entsetzt. Obwohl ich in Dorsten zur Schule ging, habe ich davon nichts gewusst. Dieses Ortsgeschehen wurde im Geschichtsunterricht nicht behandelt.
    Ich muß oft daran denken, dass dort, wo ich sorglos aufgewachsen bin, Menschen misshandelt und getötet worden sind.

  4. Juliusz-Artur Gsodam sagt:

    In den Archiven der Stadt Dorsten gibts vielleicht Namen der polnischen Offiziere die im OflagVI E bis 1945 waren?

  5. Chr. Pott sagt:

    Mein Vater hat als Kind in direkter Nachbarschaft zum Lager gewohnt. Sein Vater war damals Schleusenwärter. Er hat mir früher öfter von dem Lager erzählt, dass er und andere Nachbarskinder heimlich Essen unter dem Zaun durchgeschoben haben, und die Kinder von den Gefangenen z. T. als Dank selbst geschnitzes Spielzeug bekam.

  6. Marcin Kruszynski sagt:

    Hallo,

    Sehr interessant.
    Aber gibt es heute noch Spuren zu sehen, dass dort dieses Lager war?
    Mfg. Marcin Kruszynski

    Antwort: Außer einigen barackenähnlichen steinernen Häusern (bewohnt, mehrmals befestigt) gibt es keine sichtbaren Spuren des einstigen SA-Lagers mehr. Doch gibt es noch eine interessante Geschichte dazu. In dem Haus wohnte nach dem Krieg ein Wissenschaftler, der als Ingenieur in Sachen Wasserstofftechnik forschte. Ab 1940 war er im Bereich Flugabwehrraketen in Peenemünde tätig, der Raketen-Versuchsanstalt der Wehrmacht. Nach dem Krieg war er an der Entwicklung des „Messerschmitt-Kabinenrollers“ (glücklos) beteiligt. Er starb einsam und vergessen 1983. W. St.

    Danke fur den Antwort. Wenn ich in Deutschland bin, dann werde ich die Stelle mal besuchen. M. Kr

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