Dorstener als Volksschädlinge vor dem Sondergericht Essen – zwei beispielhafte Fälle

Von Wolf Stegemann

Ein besonders dunkles Kapitel der Strafrechtspflege in nationalsozialistischer Zeit stellten die Sondergerichte dar, die bereits 1933 eingerichtet wurden und als Spezialstrafkammern zur Ausschaltung politischer Gegner errichtet wurden. Während des Krieges entwickelten sich die Sondergerichte, die in jeden Oberlandesgerichtsbezirk errichtet waren, zum typischen Strafgericht des nationalsozialistischen Staates. Ihre Anzahl stieg von anfänglich 26 bis Ende 1942 auf 74.

Von 1940 an waren die Sondergerichte ausschließlich für das Kriegssonderstrafrecht und für Straftaten im Sinne des Heimtückegesetzes zuständig. Sondergerichte waren Schnellgerichte mit standrechtlichem Charakter: kein gerichtliches Verfahren, kurze Ladungsfristen. Die Urteile wurden mit Verkündung rechtskräftig und zum Teil umgehend vollstreckt. Für Dorsten war das Sondergericht in Essen zuständig, das entweder in Essen oder in Dorsten tagte.

Frau unterschlug 10 Reichsmark – Sechs Monate Gefängnis

Wegen Unterschlagung musste sich die Holsterhausenerin Walburga H. geborene G., damals gerade 22 Jahre alt, am 25. Juli 1940 vor dem Sondergericht Essen unter Vorsitz von Landgerichtsdirektor Dr. Kochs und Beisitzendem Richter Dr. Boes öffentlich verantworten.

Staatsanwalt Schulze warf der aus dem Gerichtsgefängnis Dorsten vorgeführten jungen Frau vor, „sich in gemeiner Weise am Eigentum eines Soldaten vergriffen“ zu haben, der beim Fallschirmabsprung in „heldenmütigem Einsatz sein Leben aufs Spiel gesetzt hat“, nun schwer verwundet im Lazarett in Dorsten liege und auf die Hilfe seiner Mitmenschen angewiesen sei. Die Holsterhausenerin habe zehn Reichsmark aus einem Brief entwendet, der ihr von dem Oberjäger Krüger, jenem Fallschirmspringer, zur Beförderung übergeben worden sei. „Sie hat die durch den Kriegszustand verursachten außergewöhnlichen Verhältnisse bewusst in einer Weise ausgenutzt“, so die Anklageschrift, „daß das gesunde Volksempfinden eine besonders strenge Bestrafung der Angeschuldigten verlangt.“

Die Angeklagte wurde von dem Dorstener Rechtsanwalt Dr. Beckmann verteidigt.  Die Ermittlungen führte der Dorstener Kriminalbeamte Dreppenstedt, der auch als Zeuge vor dem Sondergericht sein Ermittlungsergebnis darstellte:

Die erst seit zwei Monaten verheiratete Walburga H. gehörte nicht der NSDAP an, wurde festgestellt, und arbeitete derzeit im Reservelazarett in Dorsten. Ihr Mann lag verwundet in einem anderen Lazarett.  Fallschirmjäger Krüger adressierte den Brief an seine Frau in Berlin und bat Frau H. ihn zur Post zu bringen. Sie nahm den Brief an, öffnete ihn und entwendete daraus die zehn Reichsmark, verschloss ihn wieder und schickte ihn nach Berlin. Die Unterschlagung kam auf, als die Frau des Fallschirmjägers das angekündigte Geld im Brief vermisste und ihrem Mann darüber Mitteilung machte.

Die Mutter der Angeklagten ersetzte die zehn Reichsmark noch vor der Gerichtsverhandlung. Die Angeklagte gab an, das Geld entwendet zu haben, weil sie ihrem Mann ein Feldpostpäckchen ins Lazarett schicken wollte, hierzu aber kein Geld mehr hatte, da sie sich einen Mantel kaufen hat müssen. Die Dorstener „National-Zeitung“ titelte am 26. Juli 1940: „Das Vertrauen schmählich missbraucht“. Der Bericht endet mit den Worten:

„Wir hängen die Warnung an, daß es sich jeder reiflich überlegen soll, wenn er in eine ähnliche Lage gerät, wie er nach gutem Volksempfinden zu handeln hat, um der Volksgemeinschaft gerade in der Kriegszeit gerecht zu werden. Für eine an sich nicht zu große Sache muß hier ein Mensch schwer büßen, obschon die geldliche Angelegenheit nach Bekanntwerden der Tat in Ordnung gebracht wurde.“

Die Holsterhausenerin wurde zu sechs Monaten Gefängnisstrafe verurteilt und zur Verbüßung der Strafe in das Gefängnis nach Anrath (bei Krefeld) überstellt.

Nach Sauftouren: Als falsche Polizisten ausländische Arbeiter überprüft

In einem weiteren Fall saß neben dem Hervest-Dorstener Bergmann Johann Sch. der Holsterhausener Bergmann Fritz E., 37 Jahre alt, wohnhaft Borkener Straße 27, auf der Anklagebank vor dem Essener Sondergericht. Beide waren wegen grober Amtsanmaßung angeklagt. Die Geschichte entbehrt somit trotz aller Tragik für die beiden nicht eines kleinen Quäntchens unfreiwilliger Komik.

Das Essener Sondergericht tagte am 2. April 1942 im Dorstener Amtsgericht. Den Vorsitz führte Richter Göbel, Beisitzende Richter waren Amtsgerichtsrat Hillenkamp und Richter Cohausz. Die Justizangestellte Brüggemann führte das Protokoll und Rechtsanwalt Nordmann übernahm die Verteidigung der beiden Angeklagten, die aus dem Amtsgerichtsgefängnis vorgeführt wurden. Als Zeuge trat Kriminaloberassistent Schneemilch auf.
Der Angeklagte aus Holsterhausen Fritz E., so stellte der Vorsitzende Richter bei der Personenbefragung fest, arbeitete zehn Jahre lang auf der Zeche Consolidation in Gelsenkirchen, dann auf der Zeche in Moers und seit 1937 auf Fürst Leopold in Hervest-Dorsten. Von 1925 bis 1929 war er KPD-Mitglied. Er war kein NSDAP-Mitglied. Sein Komplize, ebenfalls Bergmann auf „Fürst Leopold“, war ebenfalls kein Parteigenosse, allerdings war er von 1931-34 „Stahlhelm“-Mitglied gewesen.

Die beiden Angeklagten hatten sich im Oktober/November1941 als Polizeibeamte ausgegeben und durchsuchten als „Amtspersonen“ die Baracken der ukrainischen und italienischen Zechenarbeiter und machten Kofferrevisionen. Doch sie rechneten nicht mit der Hartnäckigkeit des italienischen Dolmetschers Capraro, der unentwegt nach der Polizeimarke fragte, eine solche die beiden Dorstener Spitzbuben natürlich nicht zeigen konnten. Es kam zu einer Rangelei, da sich die italienischen Arbeiter gegen die „Amtshandlung“ zur Wehr setzten. Die beiden verließen daraufhin die Baracke.
Nach einem ausgedehnten Kneipenbummel am 17. November 1941 durch Holsterhausen, sind die beiden wiederum als „Polizeibeamte“ tätig geworden und wiederum in die Barackenanlage der italienischen Zechenarbeiter eingedrungen. Sie erklärten, sie seien Gestapo-Beamte und müssten einen italienischen Arbeiter in Haft nehmen. Wiederum wurde der Dolmetscher Capraro geholt, der wiederum ihren Ausweis zu sehen begehrte. Als sich Capraro nicht einschüchtern ließen, machten die beiden kehrt und verschwanden in der Dunkelheit. Eine Woche später waren Fritz E. und Johann Sch. wieder auf Sauftour. In einer Gaststätte an der Borkener Straße trafen sie auf den tschechischen Staatsangehörigen Kotlarczek. Sie tranken zusammen eine erhebliche Menge Alkohol und Fritz E. fragte den Tschechen nach seinem Herkunftsland und wie es ihm in Deutschland gefalle. Kotlarczek ging daraufhin auf die Toilette und verließ die Gaststätte Richtung Hervest-Dorsten. Die Angeklagten folgten ihm  und holten ihn kurz vor dem Barackenlager der Ukrainer ein. Sie machten ihm Vorhaltungen, weil er heimlich weggegangen sei.

Von der ukrainischen Baracke drang Musik zu ihnen. Die beiden zwangen den Tschechen mit zur Baracke zu gehen. Dort prüften sie die Verdunkelungsvorrichtungen der Fenster und ließen sich als „Amtspersonen“ Briefe und Familienfotos der Ukrainer zeigen. Dabei taten sie so, als könnten sie die Briefe lesen. Der Tscheche Kotlarczek fungierte dabei als Dolmetscher und sagte zu den Ukrainern, die beiden seiner Sammler für das Winterhilfswerk (WHW) und es sei jetzt angebracht, ihnen Spenden zu geben.

Mildes Urteil, da keine Volksschädlinge

In der Gerichtsverhandlung sagte der italienische Bergarbeiter Angelo Fortunato als Zeuge aus; alle anderen italienischen Bergleute, darunter der mutige Dolmetscher Capraro, befanden sich nicht mehr in Deutschland. Als weiterer Zeuge wurde der ukrainische Bergmann Michael Furdsin vernommen, als Dolmetscher fungierte Eduard Jurasek aus Holsterhausen.
Nachdem in der Gerichtsverhandlung die Anklagevorwürfe als erwiesen festgestellt wurden, verurteilte das Sondergericht die Angeklagten wegen Amtsanmaßung und groben Unfugs zu Gefängnisstrafen. Der Holsterhausener Fritz E. bekam eine Gefängnisstrafe von vier Monaten und eine Haftstrafe von einer Woche, sein Komplize drei Monate Gefängnis und eine Woche Haft.

Vorsitzender Richter Göbel erläuterte die Urteilsbegründung. Zwar hätten die Angeklagten ihre Straftaten in einem Ausländerlager begangen und die Taten hätten sich gegen Insassen dieses Lagers gerichtet, doch hätte das unbefugte nächtliche Eindringen in die Wohnbaracken der ukrainischen Arbeiter sowie durch unberechtigte Nachprüfung der Fensterverdunkelung die Arbeiter erheblich gestört und beunruhigt.

„Diese Ausländerlager sind durch den kriegsbedingten Mangel an Arbeitskräften im Reiche erforderlich geworden und stellen eine typische Kriegserscheinung dar. Selbst wenn man aber annehmen wollte, dass deshalb Taten der Angeklagten durch außergewöhnliche Kriegsverhältnisse erleichtert worden sind, und dass die Angeklagten sich dessen bewußt waren, würden durch Volksschädlingstaten nach § 4 Volksschädl.VO nicht vorliegen, weil die Taten der Angeklagten nicht so besonders verwerflich wären, dass das gesunde Volksempfinden eine Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens und einer Bestrafung der Angeklagten mit Zuchthaus erfordert. Scherz und Übermut war ihre Handlungsweise, sie wollten den Ausländern nur einen Streich spielen…“

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