Ein Witz und seine Folgen bei der Gestapo und vor der Justiz. Protokoll einer Vernehmung

Von Wolf Stegemann

Auf Verächtlichmachung der Partei und ih­rer „Hoheitsträger“ reagierten die National­sozialisten mit einer heute kaum vorstellba­ren Schärfe. Ein in angeheiterter Gesell­schaft oder „nur so daher“ gesagter Witz ge­nügte manchmal schon, um einen Bürger von einem Sondergericht zu einer Zucht­hausstrafe oder zur Einweisung in ein Kon­zentrationslager verurteilen zu lassen.

In den Beständen des Landesarchivs NRW in Münster befin­det sich eine Gerichtsakte, die über Folgen eines solchen „nur so daher“ gesagten Witzes Aufschluss gibt. Der kaufmännische Angestellte und Pg. Pe­ter P. aus Marl, geboren am 9.  März 1884, erstattet am 17. Februar 1945 bei der Gestapo-Dienst­stelle der Chemischen Werke Hüls Anzeige gegen die in Holsterhausen wohnende Maria Schmeing, Bürovorsteherin der Abwehr-Dienststelle. Er gibt zu Protokoll, dass seine Tochter Marianne im Büro einen politischen Witz gehört habe. Der von Frl. Schmeing er­zählte Witz enthalte einen „staatsabträgli­chen Charakter“. Kriminal-Sekretär und SS-Untersturmführer P. nimmt zu Protokoll: „U. a. habe sie die Parteigenossin Sp. ge­fragt, ob sie wisse, wann der Krieg zu Ende sei. Nach Verneinung seitens der Sp. hatte die Schmeing gesagt: Der Krieg sei dann aus, wenn in München in der Feldherrnhalle ein Sarg stehe mit der Aufschrift: KdF. Auf die Frage, was KdF bedeute, hat die Schmeing ent­gegnet: Knochen des Führers.“

Kollegen denunzieren die Büroleiterin

Am 20. Februar wird zunächst die Zeugin Sp., geboren am 30.  Juli 1926 in Hüls, wohnhaft in Marl, zur Gestapo-Dienststelle in der CWH vorgeladen. Sie bestätigt den Inhalt der Anzeige und denunziert ihre Bürovorsteherin Schmeing noch weitergehender, indem sie u. a. sagt, dass die Schmeing „an einem Endsieg für Deutschland zweifle“. Die Zeugin macht die konfessionelle Gebundenheit der Beschul­digten dafür verantwortlich, dass sie stets ge­gen Führer und Reich rede. Sie gibt zu Protokoll:

„Auch machte sie sich bei verschiedenen Gelegenheiten über die Rede des Führers lustig: ,Gebt mir zehn Jahre Zeit, und ihr werdet Deutschland nicht wieder erken­nen’, indem sie sich äußerte, dass der Füh­rer das erreicht hätte, da uns durch Bom­benterror die ganzen Städte zerstört wür­den.“

Auch gibt die Zeugin an, dass die Schmeing ein­mal gesagt habe: „Es geht auch ohne Par­tei.“

Am 26. Februar 1945 wird die Zeugin Ma­rianne R., geboren am 2.  Juni 1926, vernommen, die als Schreibkraft in der Gestapo-Dienst­stelle CWH Marl-Hüls arbeitet. Die Zeu­gin gibt an, dass sie seit 1936 dem BDM ange­höre und seit Februar 1944 der NSDAP. Sie bestätigt die von ihrem Vater gemachten An­gaben, die sie ihm erzählt habe und betont die konfessionelle Gebundenheit der Be­schuldigten.

Am 28. Februar 1945 wird der Zeuge Josef O., Bürobote, geboren am 3.  Juni 1929, gehört. Er bestätigt ebenfalls die konfessionelle Gebun­denheit der Schmeing und geht in seinen An­schuldigungen noch weiter als die übrigen Zeugen. Im Gestapo-Protokoll steht:

„So habe ich gehört, wie Frl. Schmeing und Frl. Sp. sich über Juden unterhielten. Die Schmeing ließ sich zu der Äußerung hinrei­ßen, man habe doch seinerzeit den Juden Unrecht getan, indem man sie aus Deutschland hinausgeworfen hätte. Unter ihnen gäbe es auch anständige Leute. Die Tat würde sich dann rächen, wenn wir den Krieg verlieren sollten und sie alle wieder zurück kämen.“

Vernehmung bei der Gestapo-Dienststelle Marl-Hüls

Die Beschuldigte, Maria Schmeing, geboren am 25.  Juli 1917 in Borken, kaufmännische Ange­stellte bei der CWH, wohnhaft in Holster­hausen, wurde bereits am 23. Februar 1945 in der Gestapo-Dienststelle vernommen. Zur Person sagte sie, dass sie ihre Lehrzeit bei der jüdischen Familie Levinstein in Groß Reken verbracht habe, die Inhaber eines Manufakturgeschäftes gewesen seien. 1934 hatte sie die Lehrzeit beendet. Danach arbeitete sie bei der Fa. Kempa in Dorsten. Seit 16. September 1943 ist sie im Büro der Abwehr bei der CWH beschäftigt. Bei der Vernehmung gibt sie die Bemerkung über die Juden zu. „Man kann nicht alle über einen Kamm scheren.“

Ihre Anmerkungen über die militärische Lage und ihre Zweifel am Endsieg gibt Maria Schmeing ebenfalls zu. Sie streitet aber entschie­den die Bemerkungen „Gebt mir zehn Jahre Zeit …“ und „Es geht auch ohne Partei“ ab. Schmeing gibt weiterhin zu, den Witz mit dem KdF-Sarg erzählt zu haben und sieht auf Vor­haltung ein, dass er „staatsfeindliche Tenden­zen“ habe. Sie bestreitet aber ihre konfessio­nelle Gebundenheit.

Am 2. März 1945 schreibt der Gestapo-Be­amte einen Bericht. Der letzte Satz lautet: „Die staatsfeindliche Haltung der Schmeing dürfte in erster Linie auf die konfessionell strenge Gebundenheit zurückzuführen sein.“ Am gleichen Tag wird Maria Schmeing um 10 Uhr verhaftet und in das Polizei-Gefängnis Reck­linghausen wegen „Vergehens gegen das Heimtückegesetz“ (Tgb.-Nr. 86/45 – Haft­sache) eingeliefert. Ebenfalls am gleichen Tag findet vor dem Oberamtsrichter E. beim Amtsgericht Recklinghausen die Gerichtsverhandlung statt (Az: 18a Js 291/45 und 8 Gs 102/45). Die Angeklagte Schmeing erklärt dem Richter, dass sie den Ausführungen der Gestapo nichts hinzuzufügen habe. Daraufhin entlässt der Richter die Verhaftete ohne Auflagen. Knapp vier Wochen später über­rollt die Invasionsfront der Alliierten das Ruhrgebiet. Der Krieg ist zwischen Rhein und Lippe zu Ende.

Begegnung mit Maria Schmeing 1984

40 Jahre nach diesem Vorfall ist es dem Autor gelungen, die damalige Angeklagte Maria Schmeing in Hei­den (Landkreis Borken) ausfindig zu ma­chen. Sie war sehr überrascht, mit der dama­ligen Angelegenheit vier Jahrzehnte danach kon­frontiert zu werden. Sie erinnert sich an 1945:

„Als ich den Witz erzählt habe, dachte ich mir nichts dabei. Schließlich wurden in unse­rem Büro öfter solche Reden geführt. Den Witz habe ich nur weitererzählt. Kurz darauf bemerkte ich, dass mir jeder aus dem Wege ging, nicht mehr mit mir sprach. Wenn ich das Büro betrat, entfernten sich die dort arbeitenden Mädchen. Verwundert fragte ich eine Kollegin, was denn los sei. Sie sagte zu mir: ,Weißt du denn nicht, dass die Gestapo hinter dir her ist?’ Der Schreck fuhr mir in die Glieder. Das Essen schmeckte nicht mehr. Der Gestapo-Beamte P. wollte mich ins Gefängnis oder Konzentrationsla­ger bringen. Als er mich festnahm, sagte er im Büro zu meinen Mitarbeiterinnen: ,Die kommt nicht wieder!’

Der Richter, dem ich vorgeführt wurde, sah sehr grimmig aus. Doch er war gütig. Er ba­gatellisierte meinen Fall. Der Gestapo-Be­amte war darüber aufgebracht. Das nahe Kriegsende war wohl meine Rettung. Der Richter entließ mich mit der Mahnung, nicht mehr solche lästerlichen Reden zu führen. Ich sollte doch an die Jugend denken, deren Glauben an den Führer und den Endsieg ich nicht vergiften dürfe. Er sagte das mit einem nicht bemerkbaren Augenzwinkern; schließ­lich standen die Amerikaner quasi vor unse­rer Haustür.

Nach dem Kriege arbeitete ich wieder bei der CWH. Vor etlichen Jahren traf ich den damaligen Gestapo-Beamten P. wieder, der nach dem Krieg bei der Recklinghäuser Poli­zei Karriere gemacht hat. P. musste im Werk Ermittlungen anstellen und betrat mein Büro. Ich war Chefsekretärin. Er erkannte mich, wie ich ihn erkannte. Doch wir sagten nichts. Ich will keine Rache haben. Die Zeit ist schließlich vorbei.“

Siehe auch den Artikel:
1) Gestapo- und SS-Leute arbeiteten als Beamte für den BND der 50er- und 60er-Jahre. Bundeskanzler Konrad Adenauer billigte das höchstpersönlich
2) Ständige Angst vor der Geheimen Staatspolizei – In Dorsten gab es keine regulärenGestapo-Beamten
3) Günther Graf von Stosch – Als Polizeichef wurde 1949 dem NS-Regierungspräsidenten der Prozess gemacht
4) Die Geheime Staatspolizei war an keinerlei Gesetze gebunden, konnte verhaften, foltern, verschleppen und mit einem umfassenden Spitzelsystem die Bevölkerung überwachen

 

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