„Es genügt nicht, den Irrlehren mit einem Nein zu widerstehen!“ Die evangelische Martin-Luther-Gemeinde in Holsterhausen unterstellte sich der Bekennenden Kirche

Von Ernst Krüsmann (†)

Wenn man rückblickend die kirchliche Lage von 1930 bis 1945 in Dorsten-Holsterhausen überschaut, dann kann man nichts Besseres tun, als die Worte des Stuttgarter Schuldbekenntnisses darüber setzen:

„Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Die Auseinandersetzung der evangelischen Kirchengemeinde Holsterhausen mit dem Nationalsozialismus begann nicht erst 1933. Mein Amtsvorgänger,  Pfarrer Arthur Paeschke, der vordem Prediger der Freien Lutherischen Kirche in Hamburg war, hat bereits 1932 sich als Wahlredner der NSDAP eingesetzt und fuhr durch die lippischen Lande. Das war für große Teile der Berg­mannsgemeinde, die politisch anders einge­stellt war, ein gewaltiges Ärgernis. Es gab Gemeindemitglieder, die sich deswegen vom Pfarramt absetzten und eigene Bibelstunden und Gottesdienste abhielten.

Pfarrer Ernst Krüsmann

Doch wäre es vermessen zu behaupten, die Gründe zu diesem Schritt hätten auf politischem Gebiet oder in bekenntnismäßiger Gegnerschaft gelegen. Der Streit entzündete sich vielmehr an per­sönlichen Unverträglichkeiten, führte schließlich zu einem Zivilprozess und drohte zu einer echten Krise in der Gemeinde zu führen. Dieser Riss schloss sich erst wieder, als Pfarrer Paeschke am 1. Juli 1933 nach Karow, Regierungsbezirk Sachsen, versetzt wurde. Paeschke war erst am 27. Februar 1927 nach Holsterhausen gekommen, die Gemeinde hatte ihn mit 18 von 19 Stimmen zum Pfarrer gewählt.

Als Hitler Reichskanzler wurde, stand eine andere Bewährung vor der Tür, die aber von einem Teil der Pfarrgemeinde nicht gesehen wurde: Man glaubte jeder Obrigkeit schuldi­gen Gehorsam leisten zu müssen und berief sich dabei auf die Regierungserklärung vom 21. März 1933, die sich aber später als Pro­paganda entpuppte. Hitler sagte u. a.:

„Indem nun aber die nationale Regie­rung in dieser feierlichen Stunde zum ersten Male vor den neuen Reichstag hin­tritt, bekundet sie zugleich ihren unerschütterlichen Willen, das große Reformwerk des Umbaues des deut­schen Volkes und des Reiches in Angriff zu nehmen und entschlossen durchzufüh­ren. Wir wollen wahren unser Volkstum, die Grundlagen unseres Lebens. […] Auf­bauen wollen wir eine wahre Gemein­schaft aus den deutschen Stämmen, aus den Ständen, Berufen und den bisheri­gen Klassen. Aus Bauern, Bürgern und Arbeitern muss wieder werden ein Deut­sches Volk. Es soll dann für ewige Zeiten in seine eigene treue Verwahrung neh­men unseren Glauben und unsere Kul­tur, unsere Ehre und unsere Freiheit.“

Deutsche Christen versuchte in Holsterhausen Fuß zu fassen

Es war ein „heißer“ Sommer im Jahre 1933, voll von kirchenpolitischen Aktivitäten, als auch in Holsterhausen die „Deutschen Chri­sten“ versuchten, in der Pfarrgemeinde die „Macht zu ergreifen“. Viele eingehende Einzelgespräche und längere Sitzungen der Gemeindeleitung waren notwendig, um deutlich zu machen, dass die Gleichschaltung der Kirche mit dem nationalsozialistischen Staat Verrat am Evangelium sei. Die „allei­nige Bindung an die Heilige Schrift und die Bekenntnisse der Reformation“ (Richt­schnur des Pfarrernotbundes der Bekennen­den Kirche) waren die kirchlichen Folgerun­gen aus dieser Lage. Die berüchtigte Sport­palastkundgebung der Deutschen Christen vom 13. November 1933, auf der so radikale Forderungen gestellt wurden wie die Abschaffung des Alten Testaments und der jüdischen Theologie des Paulus, öffnete vie­len die Augen, auch denen, die sich zu den Deutschen Christen hingezogen fühlten oder abwartend zwischen den Fronten auf­hielten.

Ein Gefühl der Erleichterung und der Freude ging durch die Holsterhausener Pfarrgemeinde, als wir die »Theologische Erklärung« der Barmer Bekenntnissynode vom März 1934 uns zu Eigen machten. Für die Bekennende Kirche wurde dort das Rich­tung weisende Fundament geschaffen, wie es in der 1. These des „Barmer Bekenntnis­ses“ zum Ausdruck kommt:

„Jesus Christus, wie er uns in der Heili­gen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“

In Mehrheit keine Parteigänger der NSDAP

Es war kein Geheimnis, dass die Bergarbei­tergemeinde Holsterhausen in ihrer Mehr­heit keine Parteigänger der NSDAP war. Daraus konnte man in einer solchen Situa­tion „Kapital schlagen“. Wir werden geste­hen müssen, dass wir dieser Versuchung nicht immer widerstanden haben. Unvergesslich bleibt mir, dass Pfarrer Ludwig Steil (verstorben im KZ Dachau am 17. Januar 1945) bei einem Besuch im Pfarrhaus im Jahre 1936 sagte: „Es geht um die Herr­schaft des Wortes, nicht um politischen Widerstand.“ Dieses Gespräch ergab, dass die Wortverkündung zu politischen Fragen Stellung nehmen kann, wenn die Verbindlichkeit des Wortes Gottes hierfür in Anspruch genommen werden kann. Rückblickend steht der Märtyrer der westfäli­schen Kirche, Ludwig Steil, als der Mann vor unseren Augen, der Stellung bezogen hat vom Wort Gottes her und dafür mit seinem Leben bezahlt hat. Gott hat uns in dieser Zeit Erkenntnisse geschenkt. Aber haben wir sie auch angewandt? Haben wir durchge­halten?

Ev. Martin-Luther-Kirche in Holsterhausen um 1930

Auch mit dem Katechismus das einströmende Gift abwehren

In der Situation des Jahres 1934 und der fol­genden Jahre genügte es nicht, den Irrlehren mit einem „Nein“ zu widerstehen. Mit Bibel, Katechismus und Gesangbuch galt es, die Gemeinde gegen das einströmende Gift stark zu machen. Ein neues Verständnis der Bibel ist uns aufgegangen, das in Predigt und Lehre sich niederschlug. Die reformatori­schen Bekenntnisse wurden entdeckt. Sie waren Warnsignale vor Irrtum und zugleich Zeugnisse des Evangeliums. Man hat wieder „bekannt“ – Gemeinde wie Prediger. Dies Bekennen hat uns oft Not gemacht. Es gab genug Situationen, die uns bedrohlich erschienen. Da war die namentliche Fürbitte im Gottesdienst für die verhafteten Glieder der Bekennenden Kirche. Oder die Kanzelverlesung der „Denkschrift“ der „Vorläufi­gen Leitung“ vom Sommer 1936. Darin waren Vorwürfe der Christen gegen Maß­nahmen des Staates und der Partei genannt, wie die Entkonfessionalisierung, Entchristlichung, Missbrauch der Wahlen, Einrichtung der Konzentrationslager, Erziehung zum Antisemitismus und Antichristentum. Diese Denkschrift wurde auch in der Gemeinde verbreitet. In solchen Lagen hat man die Kraft der Fürbitte erfahren und die Gegen­wart dessen, der nicht haben will, dass wir ausweichen.

Die Gestapo wurde auf die Gemeinde aufmerksam

Einige hundert Gemeindemitglieder bekannten sich durch Beitrittserklärungen zur Bekennenden Kirche. In so genannten Bekenntnisversammlungen wurde regelmäßig über die Lage der Kirche berichtet und über brennende Themen gesprochen. Zum Beispiel über die „Judenfrage im Licht der Bibel“ oder über die „Antwort auf den Mythos“ (nach dem Buch von Künneth). Auch wurde „Die Eiserne Ration“ von Ammussen besprochen. Die Bibelstunden waren immer gut besucht. Diese Aktivitäten blieben der NSDAP und der Gestapo nicht verborgen. Lange Zeit wurden unsere Gottesdienste von einem Kriminalbeamten abgehört. Ich wurde zur Gestapo Recklinghausen vorgeladen und musste mich über verschiedene Aussagen in der Predigt rechtfertigen.

Meine Äußerung „Ein an Christus glaubender Jude steht mir näher als der blondeste SA-Mann, der Heide ist“ erregte die Gemüter so stark, dass mir Angst und Bange wurde. Aber was haben wir denn schon getan, angesichts der Ausrot­tung der Juden und anderer Ausgestoßener? Die Andeutungen in einer Predigt waren wohl kein „Zeugnis“ dafür, dass wir etwas getan haben. Die Polizei kam auch ins Pfarrhaus, um nach Flugblättern der Bekennenden Kirche zu fahnden. Vom Keller bis zum Dachboden durchsuchte sie das Haus. Sie fanden aber nichts – Gott hatte die Männer mit Blindheit geschlagen. Danach haben sie sich entschul­digt. Sie sagten, dass sie zu solchem Dienst gezwungen seien. Auch bei anderen ähnli­chen Gelegenheiten entschuldigten sie sich. Gottesdienst und Versammlungen waren in dieser Zeit gut besucht. Es fanden sich Frauen und Männer, die den notwendigen Dienst für die Bekennende Kirche taten. Bibelwochen und Volksmission wurden abgehalten. Unser Verhältnis zur katholi­schen Gemeinde war gut. Man fühlte sich „Schulter an Schulter“ in der gleichen Marschkolonne.

Die Martin-Luther-Kirche heute; Foto: Homepage der Gemeinde

Nach der Kriegsgefangenschaft 1948 den Pfarrdienst wieder aufgenommen

Später hat der Krieg alles überdeckt, was uns an Fragen noch bedrückte. Ich wurde am 21. Juni 1941 zum Kriegsdienst eingezogen. Bei den wenigen Urlaubstagen war jede Wortverkündung überlagert von der Ahnung um die schrecklichen Geschehnisse in den Lagern und die Tötung der Geisteskranken. Auch die „Endabrechnung“ mit den Kir­chen, die von den mächtigen Männern der Partei für den Zeitpunkt des „Endsiegs“ gefordert wurde, hat uns zu schaffen gemacht.

Als ich 1948 aus der Gefangenschaft in Russ­land zurück kam und meinen Pfarrdienst in Holsterhausen wieder aufnehmen konnte, war das Dritte Reich kläglich zu Ende gegan­gen. Aber der Weg der Kirche war nicht am Ende angelangt. Die Treue Gottes ist der Halt seiner Gemeinde. Von den vier Jahrzehnten meiner Amtszeit war die Zeit der Bekennenden Kirche die wertvollste. Das damals durchlebte Gesche­hen hat eine bleibende Bindung zur Kirchen­gemeinde Holsterhausen geschaffen. Bei der Rückbesinnung auf diese Zeit fällt mir der letzte Satz des Stuttgarter Schuldbe­kenntnisses der evangelischen Kirche vom Oktober 1945 ein:

Wir hoffen zu Gott, dass durch den gemeinsamen Dienst der Kirchen dem Geist der Macht und der Vergeltung, der heute von neuem mächtig werden will, in aller Welt gesteuert werde und der Geist des Friedens und der Liebe zur Herr­schaft komme, in dem allein die gequälte Menschheit Genesung finden kann. So bitten wir in dieser Stunde, in der die ganze Welt einen neuen Anfang braucht: Veni, creator spiritus“ (Komm, heiliger Geist!).

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Die Bekennende Kirche

Seit 1932 versuchten die Nationalsozialisten, die evangelische Kirche von der Basis her zu erobern. Das schien ihnen zunächst zu gelingen. So beschloss die Generalsynode der preußischen Landeskirche am 6. September 1933 die Entlassung aller Pfarrer und Kirchenbeamten jüdischer Abstammung. Aus Protest dagegen gründete der Dahlemer Pfarrer Martin Niemöller den Pfarrernotbund. Seine Mitglieder mussten eine Erklä­rung gegen die Einführung des „Arierparagrafen“ unterschreiben und ein Votum für das Bekenntnis der Kirche abgeben.

Durch eine im Sommer 1933 veröffentlichte Kampfschrift des Schweizer Theologen Karl Barth wuchs zugleich die Erkenntnis, dass der Auftrag der Kirche in der Wahrung des auf dem Evangelium beruhenden Bekenntnisses besteht. In der Sorge um dieses Bekenntnis schlossen sich viele Gemeinden enger zusammen, einzelne sogar gegen ihre deutsch-christlichen Pfarrer. Gleichzeitig wuchs die Opposition gegen die gewaltsamen Gleichschaltungsversuche des Reichsbischofs Müller, der alle bislang unabhängigen Landeskirchen zu einer staat­lich gelenkten Reichskirche vereinigen wollte. Die opponierenden Bekenntniskirchen schlossen sich im Mai 1934 in Barmen auf der ersten Reichsbekenntnissynode zur „Bekennenden Kirche“ zusammen, die sich als die allein rechtmäßige Kirche verstand.

Auf der zweiten Reichsbekenntnissynode im Oktober 1934 in Berlin-Dahlem trennte sich die Bekennende Kirche endgültig von den Deutschen Christen und gründete eine ei­gene Kirchenleitung: die Bruderräte. Diese Bruderräte leben im heutigen „Rat der EKD“ weiter.

 

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Ein Kommentar zu „Es genügt nicht, den Irrlehren mit einem Nein zu widerstehen!“ Die evangelische Martin-Luther-Gemeinde in Holsterhausen unterstellte sich der Bekennenden Kirche

  1. Fritz Achelpöhler sagt:

    „Wir werden geste­hen müssen, dass wir dieser Versuchung nicht immer widerstanden haben.“ – dazu füge ich aus der Erinnerung an, „zunächst habe sich die Gemeinde um die Familien der im KZ inhaftierten Kommunisten gekümmert. Später seien die Frauen auch auf den Pfarrer zugekommen mit der Frage wie sie helfen könnten. Im Verteilen von Flugblättern u. dergl. hätten sie Erfahrung.
    „Die Polizei kam auch ins Pfarrhaus, um nach Flugblättern der Bekennenden Kirche zu fahnden. Vom Keller bis zum Dachboden durchsuchte sie das Haus. Sie fanden aber nichts – Gott hatte die Männer mit Blindheit geschlagen.“ – Die Fugblätter hätten in Stapeln bei seiner Frau Edith auf dem Küchentisch gelegen, füge ich in Erinnerung an ein Gespräch mit Ernst Krüsmann in Bielefeld an.

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