Nachkriegskriminalität: Kaffeeschmuggler, brave Großmütter, Bigamisten und falsche Polizisten machten den Richtern zu schaffen

Im Amtsgericht Dorsten tagte nach dem Krieg hin und wieder auch das Landgericht Essen

Von Wolf Stegemann

Hunger, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot förderten nach dem Krieg die Kriminalität, die von Jahr zu Jahr stieg. In der Polizei­statistik wurde das Schwarzschlachten ebenso aufgeführt wie der Schwarzhandel und Wirtschaftsvergehen, Unterschlagun­gen von Lebensmitteln, wie Diebstähle von Eiern, Überfälle, Raub und Sittlichkeitsde­likte. Nach den turbulenten ersten Nach­kriegsjahren ließen die schweren Delikte wie Mord, Totschlag und Körperverletzung mit Todesfolge nach, stiegen aber Anfang der 50er Jahre wieder an. Die »Dorstener Volks­zeitung« schreibt 1951:

»Daß dieses neuerli­che Ansteigen mit der Abschaffung der To­desstrafe in Zusammenhang zu bringen ist, läßt sich natürlich nicht belegen. Es muß wei­ter berücksichtigt werden, daß in den beiden letzten Jahren die Ausländer der deutschen Gerichtsbarkeit unterstellt und abgeurteilt wurden…«

Genauso verlief die Kurve der Diebstähle, deren Zahl 1949 stark abgenommen hatte, danach aber wieder anstieg. Es häuften sich Metalldiebstähle und Einbrüche. Auch Raub und Erpressung stiegen nach anfängli­chem Rückgang. Einen traurigen Rekord hielten Sittlichkeits­delikte. Wurden im Landgerichtsbezirk Münster 1949 »nur« 171 Fälle gezählt, so wa­ren es 1950 über 770 zum Teil schwere Sitt­lichkeitsverbrechen.

Dorstener Richter hatten alle Hände voll zu tun

Auch die Dorstener Amtsrichter hatten alle Hände voll zu tun, kleinere und größere De­likte abzuurteilen. Bei schweren Fällen tag­ten die Strafkammern des Essener Landge­richts im Dorstener Amtsgericht.

Kohlendiedstahl nannte man nach dem Kölner Bischof Frings "fringsen", weil dieser für diese Diebstähle Verständnis äußerte.

Hauptlehrer betrieb schwunghaften Handel mit Kaffee

In Zeiten der knappen Waren blühte der Schwarzhandel. Die Zollfahndung ermittelte im Dezember 1950 einen Hauptlehrer in Altschermbeck, der sich jeden Monat von seiner in Amerika lebenden Schwester fünf Pfund Kaffee schicken ließ. Dagegen hatte der Zoll nichts einzuwenden, zumal dieses Quantum gerade noch erlaubt war. Aber dem findigen Hauptlehrer genügten die fünf Pfund nicht, da er mittlerweile entdeckt hatte, dass man mit Kaffee einen schwunghaften Handel betreiben konnte. Deshalb setzte er sich mit einem Kaufmann in Verbin­dung. Gemeinsam sammelten sie Deck­adressen für Kaffeepakete. Die Dorstener Volkszeitung am 12. Januar 1950: »Das Ge­schäft blühte wie noch nie.« Der Kaffee wurde für 10 bis 15 Mark pro Pfund abge­setzt. Der Handel wurde schließlich so schwunghaft betrieben, dass die Zollfahn­dungsstelle in Borken Wind davon bekam und bei dem Hauptlehrer und dem Kauf­mann Hausdurchsuchungen vornahm. Mit Hilfe einer Hamburger Auslieferungsfirma stellten die Behörden fest, dass mindestens 70 Kilo Kaffee an Deckadressen in Alt­schermbeck, das damals noch zum Amt Her­vest-Dorsten gehörte, geschickt worden wa­ren.

Wissenschaftliche Untersuchung zur Nachkriegskriminalität, erschienen bereits 1949

Auguste T. wütete im Wohnungsamt

Immer wieder Anlass für Zank, Rechts­streit und Gesetzesübertretungen war die Wohnungsnot. Hausfriedensbruch, tätliche Beleidigung, gefährliche Körperverletzung und Sachbeschädigung brachten Auguste T. im Dezember vor das Dorstener Schöffengericht.

Fünf Jahre schon hatte Auguste bei ihrem Bruder gewohnt, der selbst mit einer sechs­köpfigen Familie in einer winzigen Wohnung hauste. Als Auguste eines Tages eine leer ste­hende Baracke auskundschaftete, zog sie kurzentschlossen dort hinein. Nach drei Wochen for­derte das Wohnungsamt sie auf, die Baracke wieder zu räumen. Daraufhin ging sie zum Bürgermeister, der den Beamten bat, die Frau noch eine Weile in der Baracke woh­nen zu lassen. Dieser blieb aber hart. Am andern Morgen stand der Beamte um sieben Uhr vor der Tür der Auguste und sagte: »Sind Sie noch nicht heraus? Jetzt mache ich Ihnen Dampf!« Sogleich packte er die Möbel und beförderte sie auf die Straße. Aufgeregt lief Auguste zum Wohnungsamt, stürmte in das Büro, erklärte den verdutzten Angestellten, dass sie nicht eher das Büro verlassen würde, bis sie eine Wohnung habe. Der Wortwechsel wurde heftiger. Schließ­lich ergriff Auguste einen Aktenordner und schlug ihn im Zorn der nächst stehenden Angestellten um die Ohren. Einen Aschen­becher zerschmetterte sie auf dem Schreib­tisch und warf die Trümmer dem gerade in Deckung gehenden Angestellten an den Kopf. Mehrere Aktenbündel folgten diesem Weg. Der Angestellte wurde verletzt und stellte Strafantrag.

Der Staatsanwalt beantragte gegen Auguste zwei Monate Gefängnisstrafe. Das Gericht berücksichtigte allerdings die verständliche Erregung der Auguste als strafmildernd und verurteilte sie zu einer Geldstrafe von 100 Mark.

Widerrechtlich Lebensmittelkarten für totes Enkelkind bezogen

Im Oktober 1948 musste sich eine Groß­mutter vor dem Dorstener Gericht verantworten, die noch nie mit dem Gericht und der Polizei zu tun gehabt hatte. Als im Sep­tember 1945 ihr Enkelkind starb, unterließ sie es, das Ernährungsamt davon in Kenntnis zu setzen, und bezog über zweieinhalb Jahre widerrechtlich die Lebensmittelkarten des verstorbenen Kindes. Die über 70-Jährige verbrauchte die zusätzlichen Lebensmittel aber nicht für sich, sondern ausschließlich für zwei weitere in ihrem Haushalt lebende Enkelkinder, weil sie Mitleid mit deren Hun­ger hatte. Das Gericht erkannte die Beweggründe wohl an, verurteilte die Frau aber we­gen des allzu langen Zeitraumes des wider­rechtlichen Bezugs der Lebensmittelkarten zu einer Strafe von zwei Monaten Gefäng­nis.

Ein Fall von Bigamie wurde eingestellt

In der Zeit, in der viele Männer als ver­misst galten, wo Familien auseinander geris­sen waren, kam es schon vor, dass Frauen oder Männer, die jahrelang nicht wussten, ob ihr Ehepartner noch lebt, einen anderen Le­bensgefährten suchten. Nicht selten endeten solche tragischen Fälle als Verbrechen vor dem Strafrichter.

Auf einem Verschiebebahnhof irgendwo in Rumänien standen im Winter 1945 zwei Heimkehrerzüge aus Sibirien. In dem einen befanden sich Kriegsgefangene, in dem anderen deutsche Zwangsarbeiterinnen. Die meisten waren krank und arbeitsunfähig. Unter den ehemaligen Soldaten war der da­mals 28-jährige Klaus Kr. aus Dorsten. Von Abteil zu Abteil lernten sie sich kennen: der Dorstener, der auf der Heimfahrt Rich­tung Deutschland war, und die 17-jährige Ostpreußin, die in ein sibirisches Kohleberg­werk verschleppt worden war und nun als menschliches Wrack irgendwohin in den We­sten fuhr.

Die beiden fassten Zuneigung zueinander. Kr. gestand ihr, dass er in der Tschechoslowa­kei eine Frau und zwei Kinder habe. Ge­meinsam fuhren der 28-Jährige und das ost­preußische Mädchen in das Ruhrgebiet. Nach kurzem Aufenthalt in Bottrop zogen sie nach Dorsten, wo der Mann im Bergbau Arbeit fand. Die beiden heirateten und er­klärten vor dem Standesbeamten, nicht ver­heiratet zu sein. Bei dem Mädchen stimmte das, nicht aber bei dem Mann. Als später die rechtmäßige Frau auftauchte, stand das Pärchen im August 1951 vor der Großen Strafkammer. Er als Bigamist, sie, weil sie die falsche Ehe wissentlich eingegan­gen war. Das unrechtmäßige Paar kam glimpflich davon. Gegen die Angeklagte wurde das Verfahren mit Rücksicht auf Straf­freiheit eingestellt. Klaus Kr. erhielt wegen Doppelehe sieben Monate Gefängnis, für die ihm Strafaufschub gewährt wurde. Kr. ließ sich von seiner erstvermählten Frau scheiden und heiratete nochmals vor dem Dorstener Standesamt sein ostpreußisches Mädchen.

Justitia, Göttin der Gerechtigkeit

Tot erklärte Frau tauchte wieder auf – Bigamist verurteilt

Im gleichen Jahr musste sich die Große Strafkammer beim Amtsgericht Dorsten mit ei­nem ähnlichen Fall beschäftigen. Theodor St. stammte aus Danzig, hatte polnische Eltern, war Analphabet, wurde deut­scher Soldat, machte den Feldzug gegen Frankreich mit und geriet bei Kriegsende auf den Kanalinseln in Kriegsgefangenschaft. Vergeblich bemühte er sich von England aus, die Verbindung zu seiner in Danzig ver­bliebenen Frau aufzunehmen. Seine Briefe kamen als unzustellbar zurück. Nach seiner Gefangenschaft fand er Beschäf­tigung in einem Dorstener Industriewerk. Abermalige Bemühungen, seine Frau ausfindig zu machen, scheiterten. 1948 verliebte er sich in ein Dorstener Mäd­chen, wurde von dessen Familie herzlich aufgenommen und fand somit eine Bleibe. Die Eltern des Mädchens drängten auf Heirat, zumal ein Kind erwartet wurde. Um das neu gewonnene Heim und Glück nicht zu gefährden, setzte sich St. über alle Bedenken hin­weg, und fälschte einen Brief, aus dem hervorging, dass seine Frau in Danzig verstor­ben sei. Dieses Schreiben legte St. als Urkunde dem Standesamt vor. Die Flitterwochen waren kaum beendet, da tauchte die tot erklärte Frau auf. Beide Frauen kämpften nun um denselben Mann, der von der einen zur anderen schwankte. Letztlich entschied er sich für die ihm rech­tens Angetraute und erhob Nichtigkeits­klage bezüglich seiner zweiten Ehe. Aller­dings wurde die erste Ehe geschieden, weil sich herausstellte, dass er die Beziehungen zur zweiten Frau nicht abgebrochen hatte. Die erste Frau wollte ihn aber immer noch nicht aufgeben. Sie zeigte ihn wegen Biga­mie und Urkundenfälschung an, verwei­gerte jedoch vor Gericht die Aussage, weil sie sich immer noch vor Gott mit ihm verbun­den fühlte. Nach der Beweisaufnahme fällte das Gericht den Schuldspruch: Wegen Doppelehe, Urkundenfälschung und einer falschen eidesstattlichen Versicherung wurde Theo St. zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Das Gericht billigte weitgehend mildernde Umstände zu und stellte fest, dass der Angeklagte nicht aus verbrecherischer Neigung gehandelt hatte, sondern durch die schicksalhafte Verworrenheit seiner Situa­tion ins Straucheln gebracht worden war. Theo St. brauchte die Strafe nicht verbüßen. Eine Amnestie bewahrte ihn vor dem Straf­antritt. Er lebte als glücklicher Großva­ter in Dorsten. – Sein Vorname und die An­fangsbuchstaben seines Nachnamens sind hier aus begreiflichen Gründen geän­dert.

Schwarzmarkt-Kontrolle durch englische Militärpolizei und deutsche Polizei

Handgemenge mit falschem englischen Polizeiinspektor

Mit einem wie eine Köpenickiade anmutenden Fall hatte sich im August 1950 der Einzelrichter am Amtsgericht Dorsten zu be­fassen. Im Februar des Jahres 1950 waren der Mar­ler Bürgermeister Heiland und der Marler Amtsbürgermeister Baum von einer Veran­staltung gekommen, als kurz vor ihrem Wa­gen ein stark beschädigtes Auto im Zick-Zack-Kurs über die Straße schlingerte. Ein Überholen des Wagens war unmöglich. Plötzlich bog das Fahrzeug in eine Seiten­straße ein und hielt unter einer Laterne. Die beiden Bürgermeister folgten in ihrem Wagen dem Fahrzeug, um die Autonummer aufzuschrei­ben.

Laute englische Flüche ausstoßend, torkelte der Fahrer um den Wagen herum und stellte sich vor das Nummernschild, das Heiland ge­rade entziffern wollte, und bedeutete ihm, endlich weiter zu fahren. Ihm als englischen Polizeiinspektor Schwierigkeiten zu ma­chen, lallte er, würde Konsequenzen zur Folge ha­ben. Daraufhin entwickelte sich ein Handgemenge, in das die beiden Bürgermeister und neben dem Angeklagten auch noch dessen Beifahrer verwickelt wurden. Als später die Polizei am Tatort erschienen war, stellte sich bei einer Blutprobe heraus, dass der Polizeiinspektor weder echt noch englisch war, aber echte 14 Promille Alkohol im Blut hatte.

Wegen Vergehens gegen die Straßenver­kehrsordnung und Körperverletzung verur­teilte ihn der Amtsrichter zu einer Gefäng­nisstrafe von drei Wochen und einer Geld­buße von 80 Mark. Sein Beifahrer kam mit 50 Mark Geldstrafe davon.

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