Depromotion 1941 – Wegen Schwangerschaftsabbrüchen wurde der Frauenarzt Dr. Otto Grosse-Wietfeld 1938 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt und ihm der Doktorgrad entzogen

Unter allen Depromotionen aufgrund eines Strafurteils war das Delikt der Schwangerschaftsunterbrechung an den Medizinischen Fakultäten am häufigsten. Die Abtreibung war bereits vor 1933 strafbar und hatte auch damals schon in Einzelfällen zur Aberkennung des Doktortitels geführt. Nach der Machtübernahme wurde sie jedoch als ein bevölkerungspolitisches Instrument eingesetzt, das in zweierlei Richtung wirken sollte: Zum einen wurden die Strafen für Abtreibung an „arischen“ Kindern drastisch erhöht, um die „Lebenskraft des deutschen Volkes“ zu schützen, zum andern wurde sie nicht nur gefördert, sondern als eugenische Zwangsmaßnahme angeordnet und eingesetzt. Letzteres betraf vor allem die Zwangsarbeiterinnen in Deutschland, an denen im Verlaufe des Krieges eine Vielzahl von Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärztinnen und Ärzte durchgeführt wurde. In der Erlanger Universitäts-Frauenklinik wurden in den Jahren 1943 bis 1945 mindestens 136 Abtreibungen an „Ostarbeiterinnen“ vorgenommen.
Es ging den NS-Machthabern bei der Bestrafung der Abtreibung also nicht um den grundsätzlichen Schutz des ungeborenen Lebens, sondern um die Durchsetzung ihrer Rassen- und Bevölkerungspolitik. Vor diesem spezifischen Hintergrund müssen demzufolge auch diejenigen Aberkennungen gesehen und bewertet werden, die aufgrund entsprechender, teilweise drastischer Strafurteile ausgesprochen wurden, wobei sich die Situation der Angeklagten noch erheblich verschärfte, wenn es sich um einen jüdischen Arzt oder eine jüdische Ärztin handelte. Bei Dr. Otto Grosse-Wietfeld handelt es sich um einen nicht-jüdischen Frauenarzt, der sich wegen Schwangerschaftsabbrüchen dun einer Abtreibung strafrechtlich schuldig gemacht hatte.

Dorstener Petrinumschüler Freiwilliger drei Jahre im Ersten Weltkrieg

Otto Grosse-Wietfeld wurde 1898 in Bottdorf bei Menslage (Landkreis Osnabrück) geboren. Die Großeltern und Eltern hatten einen wirtschaftlichen Betrieb mit Bäckerei, Molkerei und Mühle im Dorf Emstek bei Cloppenburg. Seine Eltern schickten ihn auf das Gymnasium Petrinum in Dorsten. Gewohnt hat er zuerst im Bischöflichen Gymnasialalumnat (Schülerheim) am Ostwall, später als älterer Gymnasiast im „Burgkonvikt“ (spätere Annastift). Noch während seiner Gymnasialzeit in Dorsten diente er von 1915 bis 1918 freiwillig als Soldat im Ersten Weltkrieg. Dies war offensichtlich auch der allgemeinen Kriegsbegeisterung geschuldet, die auch von dem damaligen Direktor Dr. Josef Wiedenhöfer bei den Schülern entfacht wurde. Otto Grosse-Wietfeld konnte allerdings nur dadurch Soldat werden, dass er sich bei der Musterung als 17-Jähriger für ein Jahr älter ausgab. Er wurde im  Russlandfeldzug eingesetzt und überlebte; zwei seiner Brüder starben in Frankreich. 1918 ans Petrinum in Dorsten zurückgekehrt, bestand er 1920 das Abitur, wollte vorerst Zoologie studieren, dann wechselte er zur Humanmedizin und studierte in Königsberg, Münster, Gießen und Breslau.

Universität Erlangen verlieh ihm 1930 den Doktortitel

1927 erhielt er seine ärztliche Approbation. Anschließend war er am Anatomischen Institut sowie in der Medizinischen Klinik der Universität Gießen tätig. Später ging er als Volontärarzt ans Pathologische Institut der Charite nach Berlin und erlebte dort u. a. noch Ferdinand Sauerbruch in der Chirurgischen Klinik, bevor er an die Medizinische Universitätsklinik nach Münster wechselte. Im Anschluss hatte Otto Grosse-Wietfeld eine Assistentenstelle an der Chirurgischen Klinik in Dortmund inne. Im April 1929 arbeitete er als Assistent am Pathologischen Institut der Universität Erlangen. Er promovierte am 10. März 1930 in Erlangen mit einer Dissertation zum Thema „Über lymphoepitheliale Geschwülste. Mit zwei neuen Fällen“. Bis Juni 1933 hatte er am Pathologischen Institut der Universität Erlangen eine bezahlte Assistentenstelle und Dr. Otto Grosse-Wietfeld bildete sich in der Gynäkologie und Geburtshilfe weiter aus.

Wegen Schwangerschaftsabbrüche und versuchter Abtreibung verurteilt

Dr. Grosse-Wietfeld plante zum Ende der Weimarer Republik eine wissenschaftliche Karriere an der Universität Erlangen, in den 1930er-Jahren geriet er jedoch mit den Nationalsozialisten in Konflikt. Dies war offensichtlich der Grund für die Änderung der Pläne und den Weggang aus Franken. In einem Schreiben aus dem Jahr 1947 äußerte sich Otto Grosse-Wietfeld: „Die Universitätslaufbahn habe ich damals aufgeben müssen, weil ich mich bei der NSDAP unbeliebt gemacht hatte.“ Nach mehreren Ausbildungsphasen und mit einem breiten Erfahrungsschatz ließ sich Dr. med. Grosse-Wietfeld letztlich als Arzt in Rheine in Westfalen nieder. In seiner frauenärztlichen Praxis muss es neben einem breiten Spektrum an gynäkologischen Therapien und medizinischen Hilfen von Patientinnen auch gelegentlich den Wunsch nach Beendigung einer Schwangerschaft gegeben haben. Der breit gebildete und als „sehr gutmütig“ charakterisierte Arzt ließ sich offenbar in schwierigen sozialen Notlagen – hierbei geht es um sehr wenige fragliche Fälle – zu einem Eingriff überreden. Laut Berichten aus der Familie hätten ihn „manche Frauen angefleht“, dem habe er sich nicht entziehen können oder wollen. Die Beurteilung dieser ärztlichen Vorgehensweise hatte sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 deutlich verschärft: Dr. Grosse-Wietfeld wurde in der Zeit des „Dritten Reichs“ wegen Einzelfällen von Schwangerschaftsabbrüchen juristisch verfolgt und angeklagt. Mit Urteil des Schwurgerichts Münster vom 22. Oktober 1938 und Beschluss des Reichsgerichts vom 27. Februar 1939 wurde er schließlich wegen durchgeführter Schwangerschaftsabbrüche in zwei Fällen und versuchter Abtreibung in einem Fall von nationalsozialistischen Richtern zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Auf die Strafe wurde die erlittene Untersuchungshaft angerechnet. Wirtschaftliche Gründe spielten in diesem Kontext offensichtlich keine Rolle, dies wird auch in den Prozessunterlagen ausdrücklich verneint. Wahrscheinlich ist eine Denunziation, möglicherweise aus dem Krankenhaus Hörstel.

Ärztliches Bezirksgericht Westfalen-Lippe stempelte ihn für „unwürdig“

In der Folge erklärte ihn das Ärztliche Bezirksgericht Westfalen-Lippe laut Urteil vom 17. Juli 1940 auch noch für „unwürdig“, den ärztlichen Beruf auszuüben. Die Universität Erlangen, die ihm den Doktorgrad verlieh, wurde in der Folge über diese Vorgänge informiert und leitete ihrerseits ein Verfahren in der Frage eines möglichen Entzugs von Grosse-Wietfelds Doktortitel ein. In diesem Zusammenhang tagte der zuständige Ausschuss der Universität in einer Sitzung am 30. Mai 1941. Grosse-Wietfeld wohnte damals in Rheine. Gegen das Aberkennungsverfahren legte er über seine Rechtsanwälte fristgerecht Einspruch beim Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Berlin sowie beim Rektorat der Universität gerichtet ein. Der Deutsche Ärztegerichtshof argumentierte in Sachen Grosse-Wietfeld:

„Es würde für die Berufsausübung des Beschuldigten untragbar sein, wenn in dem berufsgerichtlichen Verfahren zu seinen Gunsten entschieden wird und er trotzdem nicht in der Lage ist, den Doktortitel zu führen. Abgesehen hiervon ist mit der Möglichkeit einer baldigen Einziehung des Beschuldigten zum Zwecke der militärärztlichen Verwendung zu rechnen; auch bei dieser Berufsausübung würde dem Beschuldigten die Entziehung des Doktortitels vor Erledigung des berufsgerichtlichen Verfahrens außerordentlich hinderlich sein. Wir bitten deshalb um Entscheidung dahin, dass dem Beschuldigten der Doktortitel vorerst belassen bleibt.“

Er blieb ihm nicht belassen. Der Rektor der Universität Erlangen leitete das Schreiben an den Dekan der Medizinischen Fakultät weiter. Am 4. Juli 1941 entzog ihm die Universität Erlangen den 1930 verliehenen Doktortitel.

Die Hauptstrecke zu Fuß von Stalingrad zurück ins Reich

Das Leben von Dr. Grosse-Wietfeld entwickelte sich unter sehr schwierigen Bedingungen: Zunächst wurde er von den Nationalsozialisten zu Arbeitsmaßnahmen in der Region herangezogen und dann im weiteren Verlauf des Krieges sogar an die Ostfront abkommandiert. Dort hat er in Worronesch (Russland) Militärdienst geleistet und auch den Kampf um Stalingrad erlebt, konnte aber gerade noch rechtzeitig vor der drohenden Gefangennahme ausgeflogen werden. Den Hauptteil des Heimwegs musste Grosse-Wietfeld zu Fuß zurücklegen. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs war er in einem Lazarett bei Münster ärztlich tätig. Dort geriet er noch in englische Kriegsgefangenschaft und war dann in Südengland (Grafschaft Kent) als Lagerarzt tätig; außerdem machte man sich die medizinischen Kenntnisse von Grosse-Wietfeld auf einer weiteren Ebene zunutze: Er unterrichtete das Fachgebiet Frauenheilkunde sogar an einer „medizinischen Akademie“ für Kriegsgefangene in Cheptow.

Trotz vierjähriger SS-Zugehörigkeit als „Unbelastet“ entnazifiziert 

Im Entnazifizierungsfragebogen des „Military Government of Germany“ nannte Grosse-Wietfeld 1946 als einzige problematische Mitgliedschaft seine Zeit in der „Allgemeinen SS“ von 1934 bis 1938; dies sei aber nicht aus Überzeugung gewesen, sondern habe sich aus der ärztlichen Tätigkeit entwickelt. Neben Erklärungen seiner Rechtsanwälte mit Verweis auf eine Reihe von Bürgen für die „tadellose persönliche Haltung“ des Arztes war u. a. auch eine Bescheinigung des Oberkreisdirektors Dr. Wientgen beigefügt. Dieser erinnerte sich, dass Grosse-Wietfeld im Zeitraum 1939-41 sogar in der Gefahr stand, aus politischen Gründen in ein Konzentrationslager gebracht zu werden. Mit Datum vom 19. August 1949 wurde Grosse-Wietfeld durch den „Entnazifizierungs-Berufungsausschuss“ bei der Regierung Münster in die „Kategorie V“ der Unbelasteten eingeteilt. Am 8. November 1952 heiratete Otto Grosse-Wietfeld Ursula, geb. Preuss, die ebenfalls promovierte Ärztin war. Die Familie hatte aber nicht nur eine besondere Nähe zur Medizin, sondern der Bruder von Otto, Franz Grosse-Wietfeld, erlangte als Theologe und Jurist besondere Bedeutung. Er galt sogar als Freund des wichtigen NS-kritischen Kardinals Clemens Graf von Galen. Dieser spielte insbesondere im Widerstand gegen die „Euthanasie-Politik Hitlers eine prominente Rolle: seine Münsteraner Predigt im Sommer 1941führte zu einem – zumindest ,offiziellen‘ Stopp der Tötungsprogramme.  Die Nähe der Familie Grosse-Wietfeld zu einem der bekanntesten Kritiker des NS-Staates war möglicherweise mit direkten negativen Auswirkungen verbunden, da der NS-Staat das Umfeld Galens sehr genau überwachte und auf allen Ebenen Druck ausübte.

1960 eine Kopie der Promotionsurkunde zu bekommen, scheiterte

Die Repressalien der NS-Zeit sollte Otto Grosse-Wietfeld in jedem Fall auch noch längere Zeit später zu spüren bekommen: Die Haltung der Erlanger Universitätsleitung ist dabei sehr interessant. Am 8. Juli 1960 beantragte Otto Grosse-Wietfeld um eine Zweitschrift seiner Promotionsurkunde, da das Original durch Kriegseinwirkung verlorengegangen war. Im Antwortschreiben des Dekans der Medizinischen Fakultät vom 22. Juli 1960 hieß es in klarer Beibehaltung der während des NS-Regimes getroffenen Entscheidungen:

„Auf ihre Anfrage vorn 8. Juli 1960 hin teile ich Ihnen mit, dass auf Grund eines Bescheides des Rektors der Universität Erlangen vorn 4. Juli 1941 … Ihnen vom Concilium decanale der Universität Erlangen der am 10. 3. 1930 bei der Medizinischen Fakultät der Universität Erlangen erworbene Dr.-Titel entzogen wurde. Über eine Wiederverleihung ist hier nichts bekannt. Ich bitte Sie deshalb um Stellungnahme, mit welchem Recht Sie einen Dr.-Titel führen.“

Mit dem Antwortschreiben vom 27. Juli 1960 wandte sich Otto Grosse-Wietfeld erneut an die Universität, in der Hoffnung, den fraglichen Sachverhalt klären zu können:

„Auf Ihren Brief vorn 22. 7. 60 möchte ich Ihnen mitteilen, dass mit Erlass des Reichsministers der Justiz vom 2. August 1943 die Tilgung des Strafvermerks über mich im Strafregister angeordnet worden und das Urteil des Schwurgerichts Münster vorn Oberbefehlshaber aufgehoben worden ist. Ich war der Meinung, dass dem Concilium decanale der Universität Erlangen von dieser Tatsache Mitteilung gemacht worden ist, zumal ich am Ende des Krieges als Oberarzt Dr. med. aus der Wehrmacht entlassen worden bin.“

Weitere Briefe folgten ohne dass die Universität Erlangen-Nürnberg dem Wunsche Otto Grosse- Wietfelds nachkam. Über das weitere Vorgehen der Hochschule oder ein eingeleitetes Entschädigungs- bzw. Rehabilitationsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland ist nichts bekannt. Grosse-Wietfeld praktizierte noch lange Jahre in Rheine in Westfalen. Er hatte die dramatischen Ereignisse und die politischen Schwierigkeiten der 1930er- und 40er-Jahre mit allen Untiefen der Nazi- und Kriegszeit überlebt und in seiner ärztlichen Tätigkeit noch eine längere fruchtbare Zeit: Er arbeitete wieder erfolgreich als niedergelassener Frauenarzt und führte offensichtlich auch den Doktortitel konstant weiter; eine offizielle Rehabilitation durch die Universität Erlangen erfolgte jedoch nicht. Nach einem vielfältigen medizinischen und einem facettenreichen persönlichen Lebensweg erkrankte Otto Grosse-Wietfeld mit 70 Jahren an einer chronischen Leukämie. Er starb nach langem Krankheitsverlauf 1980 im Alter von 82 Jahren in seiner Heimatstadt Rheine – ziemlich genau fünfzig Jahre nach seiner Promotion in Erlangen. Begraben liegt er zusammen mit seinen Geschwistern in Emstek bei Cloppenburg.

Siehe auch: Depromotionen 1933 bis 1945

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Quelle: Renate Wittern/Andreas Frewer unter Mitarbeit von Bettina Schottner/Anna Thiel: „Aberkennungen der Doktorwürde im „Dritten Reich“ – Depromotionen an der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen“, Erlanger Forschungen, Sonderreihe Nd. 12, 2008. Der Artikel wurde unwesentlich gekürzt und die Dorstener Belange ausführlicher geschildert. Wir danken für die Genehmigung.
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