Die Not der frühen Jahre – Aus dem Bewusstsein der Hunger leidenden Menschen die bürgerliche Moral verdrängt

Ruinenkinder

Von Wolf Stegemann

Nach der Stunde Null, die eigentlich keine war,  durften die Deutschen ohne Einwilligung der Sieger nichts mehr tun. Nur noch in ihren Häusern oder Kellern sitzen, ihrer Arbeit nachgehen, so sie eine hatten, im Winter frieren und ansonsten hun­gern, hungern, hungern…

Extremer Mangel an allem

Schon zu Beginn des Krieges, als die Einfuh­ren wegfielen, wurden Fleisch, Fett, Zucker und Nährmittel rationiert. Nach dem Krieg war zudem die Landwirtschaft zerstört; die Ostgebiete mit einem Viertel der Gesamtflä­che des Reiches waren verloren gegangen. Die Ausplünderung der einst besetzten Län­der war beendet, noch vorhandene Bestände waren schnell verbraucht oder flossen in dunkle Kanäle. In kurzer Zeit strömten zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene – in der Zahl etwa der damaligen Bevölke­rung Kanadas gleich – in das westliche Rest­gebiet Deutschlands.

Hunger, extreme Wohnungsnot und Mangel an Brennmaterial wurden durch den Fortfall funktionierender Verkehrsverbindungen verschärft. Diese Nöte wenigstens zu lin­dern, eine minimale Versorgung zu sichern und den Mangel gerecht zu verteilen, das ge­hörte zu den kaum lösbaren und höchst un­dankbaren Aufgaben der anfangs nur frag­mentarisch vorhandenen kommunalen Ver­waltung.

Wohnraum war Mangelware

Zeitweise nur 800 Kalorien täglich

In Notgebieten, wie dem angrenzenden Bal­lungsraum Ruhrgebiet, betrug die Kalorienmenge, die den Menschen amtlich zugeteilt wurde, zeitweise nur 800; 2.000 galt als Existenzminimum. Dagegen war die Versor­gung der Dorstener Bevölkerung und die der Landgemeinden nicht ganz so schlecht wie in den Großstädten und im benachbarten Ruhrgebiet, wenn auch hier Menschen durch das Elend, in dem vor allem die vielen Flüchtlinge lebten, gefährdet waren. Das Kreisgesundheitsamt zeigte in einem Gutachten die gesundheitlichen Probleme des Jahres 1946 in Dorsten auf: Es gab 24 Fälle von Hungerödeme, vorwiegend bei Ostflüchtlingen und entlassenen Gefange­nen, und einen Todesfall. Die Dorstener Ärzte beobachteten bei Erwachsenen »Indo­lenz, Antriebsarmut, Energielosigkeit, Reiz­barkeit, Schwächezustände, gehäufte Ohn­machtanfälle im öffentlichen Straßenbild, vor allem beim stundenlangen Schlangeste­hen, hochgradige Gewichtsverluste«. 20 Pro­zent der Dorstener Erwachsenen waren un­terernährt; die Sterblichkeit lag bei 1,4 Pro­zent (Säuglinge 8,6).

»Zahlreiche Ernäh­rungsstörungen infolge Stillschwierigkeiten nach Brustdrüseninfektion und durch Unter­ernährung bedingt, drückender Mangel an Säuglingswäsche, vor allem in Flücht­lingskreisen.«

Bei 14,8 Prozent der Kleinkin­der wurde Tbc festgestellt, 25 Prozent der Schulkinder waren unterernährt, 60 Prozent hatten Zahnschäden und 8,4 Prozent waren von der Krätze befallen, zwei Prozent hatten Ungeziefer. Geschlechtskrankheiten kamen zehnmal so oft vor wie 1943. In der gesamten britischen Zone soll es 1946 nach offiziellen Angaben der Militärregie­rung 10.000 Menschen mit Hungerödeme gegeben haben. Nach Schätzungen engli­scher Politiker waren es aber 100.000, deut­sche Behörden veröffentlichten die Zahl 130.000.

Das Hamstern und der Schwarzmarkt florierten

Hamstern verboten!

Mit der Besetzung und Befreiung brach eine neue Zeit an: Die Hamster- und die Schwarz­marktzeit. Wer überleben wollte, musste in »Sachwerten« zu denken verstehen, zumin­dest in »Stangen«. Das waren ausländische Zigaretten. Für zwanzig Zigaretten (Aktive) wurden bis zu 200 Mark gezahlt, oder man zahlte mit anderen Waren. »Kompensieren« nannte man das und zahlte auch drauf, wenn man einen Perserteppich für Kartoffeln abgab. Täglich kamen Scharen von Hamsterern aus dem Ruhrgebiet zu Fuß, Bollerwagen nach sich ziehend, in die Landgemeinden und auf die Bauernhöfe. Antonius Dönnebrink, erster Bürgermeister von Altendorf-Ulfkotte, damals Einzugsgebiet der Hamsterer, erinnerte sich: Ein altes Ehepaar kam auf seinen Hof, fragte nach Eiern und Kartoffeln. In der Hand hielten die alten Leute bereits eine kleine Scheibe Speck, die sie von einem Ulfkotter Bauern eingehandelt hatten – gegen ihre goldenen Eheringe. Dönnebrink, er­bost über diesen schmählichen Handel unter Ausnutzung der Notlage, ging mit dem vol­len Respekt seines Bürgermeisteramtes an das Tor des Bauernhofes. Er rief nur laut und mehrmals den Satz: »Ich brauche die Trauringe!« Nach einer Weile bekam er sie klein­laut ausgehändigt.

Als 1948 die Währungsreform kam, wurde über Nacht offensichtlich, dass in Wahrheit fast alles dagewesen, aber bis zu diesem Tag zurückgehalten worden war. So wurde nach dem strengen Winter 1946/47 Amts- und Stadtbürgermeister Paul Kempa von der SPD stark gerügt, weil er aus Profitstreben in seinem Textilgeschäft 100 von der Stadt bezuschusste Decken zurückgehalten hatte, ob­wohl die Decken von der Stadt bevorschusst worden waren. Paul Kempa war gleichzeitig Vorsitzender des Dorstener Einzelhandels wie des Wirtschaftsausschusses. Müller, Mit­glied des Wirtschaftsausschusses an Amtsdi­rektor Dr. Banke:

»Haben Sie sich überlegt, dass man im Januar diese Decken hatte und sie trotzdem nicht verausgabt hat, (…) wo Hunderte durch die Kälte erfroren sind? Ich möchte kein Misstrauen gegen die Ge­schäftswelt aussprechen, aber die Geschäfts­welt wird in Misskredit gebracht.«

Das Einkommen der arbeitenden Bevölke­rung hielt sich auf Vorkriegsniveau. Die 200 bis 300 Mark reichten gerade zum Kauf der rationierten Lebensmittel. Auf dem Schwarzmarkt kostete eine Zigarette sechs bis zehn Mark, einen drei Pfund schweren Laib Brot 100 Mark, offiziell aber nur 40 Pfen­nige.

Große Zeit der Schieber und Gauner

Aus dem Bewusstsein vieler Men­schen wurde die bürgerliche Moral ver­drängt. Es war eine »verrückte Zeit«, Nähr­boden für Gauner und Ausbeuter, für kleine Betrüger und große Schieber. Neben Nahrungsmitteln war Brennmaterial gesuchtes Schiebergut. Rund 160 Verfah­ren gegen »Kohleschieber« wurden im Kreis Recklinghausen eingeleitet. In Dorsten be­teiligte sich auch ein achtjähriger Schüler als »Kohlenhändler« und wurde bei einer Raz­zia mit Hilfe der Bahnpolizei ertappt. Noch nach der Währungsreform sind insgesamt 20.000 Tonnen Schlammkohle (so genannte Waschberge) verschoben worden: die Tonne für 32 bis 65 Mark statt für den damals regu­lären Preis von 13 Mark. Hunger, Kälte und Krankheit ließen brave Bürger Dinge tun, an die sie früher nicht zu denken gewagt hät­ten. Die Dorstener Gerichtsakten dieser Zeit sind prall gefüllt mit Straftaten von bis­lang unbescholtenen Bürgern. Darunter die 70-jährige Großmutter, die widerrechtlich Lebensmittelmarken für ihre hungernden Enkelkinder bezog, oder die 15-jährigen Jugendlichen, die begehrtes Metall aus den Ruinen zogen und verkauften. Man machte eben mit. Diebstahl und Betrug wurden zum Kavaliersdelikt. Väter, Mütter, Omas, Greise, Kinder – sie tummelten sich alle in der Grauzone das Leben erhaltender Strafbar­keit und auf dem Schwarzmarkt der Begehr­lichkeiten.

Polizeikontrolle auf dem Schwarzmarkt

Wer nicht tauschte, nicht buddelte, klaute oder »organisierte«, der fror und hungerte. Nachts gingen alte Männer und Frauen ängstlich in den Wald und sägten Äste ab, schafften sie auf Bollerwagen davon, Kinder buddelten in Ruinen nach Holzresten. Im Ja­nuar 1946 reduzierten die britischen Behör­den die tägliche Kalorienmenge. Das bedeu­tete, wie eine englische Zeitung berichtete, »zwei Scheiben Brot, vielleicht mit einem dünnen Häutchen Margarine darüber, einen Löffel voll Milchsuppe und zwei kleinere Kartoffeln«. Hausfrauen mussten auf die Re­zepte aus dem Ersten Weltkrieg zurückgrei­fen: Eichelkaffee, Löwenzahntee, Zuckerrü­bensirup. Volksküchen und Winterküchen sorgten mit Mahlzeiten für jene, die keinen eigenen Haushalt hat­ten.

Zur Ernährungsnot kam noch der kalte Winter

Der überaus strenge Winter 1946/47 war ein schrecklicher Höhepunkt. Am 5. April 1947 gaben Dorstener Ratsherren in einer Ratssit­zung »Stellungnahmen zur katastrophalen Ernährungslage« ab. Norres (CDU):

»Nach diesem entsetzlichsten aller Winter, den je­mals die Bevölkerung eines zivilisierten Lan­des zu überstehen hatte, in dem durch Elend, Kälte, Hunger und Krankheit die Le­benskraft (…) fast erschöpft worden ist, hat in diesen Wochen auch noch die allgemeine Ernährungslage derartige Formen angenom­men, dass ein katastrophaler Zusammen­bruch unvermeidlich erscheinen muss. In die­ser überaus ernsten Notlage fühlen wir uns innig verbunden mit allen hungernden und Not leidenden Menschen, die im Elend ver­kommen müssen, wenn nicht sofort geholfen wird. … Wir wenden uns an das Weltgewissen und fordern schnellste und durchgreifendste Hilfe in dieser verzweifelten Notlage.«

Ratsherr Heizer (SPD):

»Von einem nor­malen Familienleben (kann) infolge der Ver­sorgungslage keine Rede mehr sein. … Jeder Mensch erstrebt den eigenen Herd, und nur unter besonderen Umständen verzichtet der Werktätige auf das am eigenen Herd zuberei­tete Essen. Heute geht der Werktätige oft ohne oder mit trockenem Brot zur Arbeit und ist dort, soweit berechtigt, auf ein Volks­küchenessen angewiesen. … Bei den Schul­kindern, deren Unterricht viel zu wünschen übrig lässt, geht sehr viel Zeit mit der Schulspeisung verloren. … Alle diese Einrichtun­gen bedeuten eine nicht verdiente Beleidigung jeder Frau und Mutter, deren größte Ehre es immer war und auch sein wird, das Essen für die Familie selbst herzustellen.«

Ratsherr Groote (KPD) forderte die »Aus­schaltung aller reaktionären Elemente aus der bäuerlichen Führung und aus dem Er­nährungssektor der Verwaltung«, eine zen­trale Ernährungsbürokratie unter parlamen­tarischer Kontrolle und die Durchführung ei­ner demokratischen Bodenreform, d. h. eine entschädigungslose Enteignung und Auftei­lung des Großgrundbesitzes zur intensiven Bewirtschaftung an Kleinbauern, Landar­beiter und Umsiedler.

In der Not der frühen Jahre selbstgebastelt

An Zügen »fringsten« Männer und Frauen, Alte und Junge

Als Kohlenzüge, die das begehrte Brennmaterial von den Ruhr-Zechen nach England und anderswohin brachten, vor Überfällen frierender Menschen nicht mehr sicher waren (den Kohlenklau nannte man »fringsen«, weil der Kölner Kardinal Frings ihn für erlaubt erklärte) und bewachte Nahrungsmittellager geplündert wurden, spielte die britische Militärregierung diese Vorfälle immer noch »als Unregelmäßigkeiten« herunter. Es dauerte über ein Jahr, bis die englische Re­gierung und die dortige öffentliche Mei­nung, die erregt war über die unmenschliche Brutalität in den Konzentrationslagern, die immer stärker werdende Not und deren Fol­gen erkannten und zur Hilfe bereit waren. Die britische Zone war im Winter 1946 »her­untergekommen bis zur letzten Kartoffel«, wie Englands Premierminister Attlee zugab. Für die Westalliierten wurde offenkundig, dass Deutschland als industrielles und wirt­schaftliches Notstandsgebiet »ein starkes Ar­gument zugunsten des Kommunismus« sei. Sie wollten Deutschland nicht dem Kommu­nismus preisgeben. Sie brauchten es als Boll­werk gegen ihn. Also unternahmen sie nun auch offiziell Anstrengungen, um die Ernäh­rungslage der Bevölkerung zu verbessern.

Kohleklau am Bahngleis an der Holtstegge in Holsterhausen

Gregor Duve erinnert sich: Jeden Abend zog eine Lok einen langen Güterzug voll Kohle vom Gelände der Zeche »Fürst Leopold« durch den Hervest-Dorstener Bahnhof in Richtung Holtstegge in Holsterhausen und der alten Zeche Baldur. An einer bestimmten Stelle kam der Zug zum Stillstand. Kaum stand er, bewegten sich die Büsche neben dem Gleis. Dunkle Gestalten kletterten auf die Waggons. Es musste schnell gehen, denn der Zug hielt nicht lange an. Große und kleine Brocken des »Schwarzen Goldes« flogen im hohen Bogen nach beiden Seiten des Zuges auf den Boden. Jeder warf so viel Kohle hinab, wie er konnte. Schon setzte sich der Zug in Richtung Bahnhof wieder in Bewegung. Die ersten sprangen ab, aber die mutigen verharrten noch eine Weile und warfen weiter Kohle, dann kletterten auch sie herunter. Nun wurde die Kohle eingesammelt und jeder achtete darauf, auch genügend zu bekommen. Denn unter den Leuten am Bahngleis gab es auch solche, die herunter geflogenen Kohlebrocken nur aufhoben und dann heimlich verschwanden.

Eine Flut von Care-Paketen linderte die Not der ersten Jahre

Notwohnung an der Wasserstraße in Hervest-Dorsten (ehemaliges Gefangenenlager) um 1950; Archiv Biermann

Quäker schickten Geld und Nahrungsmittel. Innerhalb eines Jahres strömten 334.000 Care-Pakete, jedes mit einem Nährwert von 20.000 bis 40.000 Kalorien sowie mit Beklei­dung und Zigaretten über den Atlantik, Rot-Kreuz-Gesellschaften in England, Amerika, Schweden, Australien nahmen sich der Kin­derheime an, Hilfskomitees »Rettet das Kind« wurden von Methodisten. Quäkern und Mennoniten gegründet, Studenten ame­rikanischer Universitäten übernahmen Patenschaften über deutsche Waisenhäuser. Für unterernährte Kinder war der Höhe­punkt des Schultages der Schlag Schulspeise in ihre zerbeulten Essgeschirre. Der Mar­shall-Plan brachte auch Kapital für die Un­ternehmer, die nun wieder hoffen durften. Schließlich leitete die Währungsreform das Ende der Not der frühen Jahre ein, denen dann das Wirtschaftswunder folgte. Morgenthau – Marshall – Erhard sind drei Namen, die den Weg Westdeutschlands von der Stunde Null über den Schwarzmarkt zur sozialen Marktwirtschaft kennzeichnen.

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