„Russen erschlugen den Polen mit Backsteinen“ – Hans-Josef Nolte aus Holsterhausen erinnert sich an das Kriegsende und den Neuanfang

Von Wolf Stegemann

Das Haus Nr. 151 heutiger Nummerierung an der Borkener Straße, in der es eine Apotheke gibt, ist ein geschichtsträchtiges Haus. In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts fanden dort Ereignisse statt, die sich tief in das Gedächtnis des Bäckermeisters Hans-Josef Nolte sen. eingegraben haben, der damals ein Junge von zehn Jahren war. Der Vater pachtete in dem besagten Haus die Bäckerei Siebrecht, in dem auch eine Wirtschaft war, die „Zur Herrlichkeit“ hieß. Bäckermeister Hans-Josef Nolte verbrachte in diesem Haus eine Kindheit zwischen Backstube, Annette- und Borkener Straße, zwischen Krieg, Besatzung und Frieden. Dementsprechend war diese Zeit für Jungen wie ihn voller Aufregung und Abenteuer, Angst, Trauer und Hoffnung.

Für die tote Mutter war beinahe kein Sarg mehr zu haben

Eheleute Nolte aus Holsterhausen

Bis in sein hohes Alter hing Hans-Josef Nolte ein Ereignis nach, dass er am Ostersonntag 1945 erlebte, als die Amerikaner drei Tage zuvor – am Gründonnerstag – Holsterhausen eingenommen hatten. Der Gottesdienst in der Dorfkirche war voll besetzt. Die Mutter blieb zu Hause und hatte zuvor die Kinder für den Kirchgang zurechtgemacht. Während des Gottesdienstes kam eine Frau aufgeregt in die Kirche gelaufen und sagte zum Geistlichen, dem Rektor Bernhard van Heyden, er möge für das Seelenheil einer Frau beten, die gerade zu Hause gestorben war. Als der Junge nach Hause kam, fand er Nachbarn im Hause vor und fassungslos stand er vor seiner Mutter, die an Herzversagen gestorben war. Sie hinterließ ihren Mann und vier unmündige Kinder.

Natürlich war in diesen Tagen des Niedergangs kein Sarg zu haben. Da half der alte Tischler Kohn (heute Amerongen), der für eigene Zwecke immer einen fertigen Sarg in Reserve hatte. „Er schenkte ihn meinem Vater, damit unsere Mutter würdig beerdigt werden konnte.“ Mit Pferd und Wagen ist dann die tote Mutter zum Friedhof gebracht worden. Familie, Nachbarn und Freunde gaben ihr das Geleit. „Überhaupt“, erinnert sich Hans- Josef Nolte, „hat uns die Nachbarschaft sehr geholfen!“

Danach lief in der Backstube alles weiter wie gehabt. Vater Alois fuhr mit dem Fahrrad nach Castrop, woher die Mutter stammte. Ihr Elternhaus stand direkt an der Lambertikirche. Eine Schwester von ihr, die sie Mariechen nannten, war Hans-Josefs Tante. „Sie kam öfter nach Holsterhausen, um nach uns zu sehen, benötigte am Anfang aber sechs Wochen, bis sie die Reisegenehmigung nach Holsterhausen bekam.“ Schließlich hat der Vater sie geheiratet und in der Familie wie in der Bäckerei war wieder eine Frau zu Hause.

Dorstener Bäcker versorgten das nördliche Ruhrgebiet

Dorstener Bäcker mussten in den letzten vier Wochen des Krieges auch für die nördlichen Ruhrgebietsstädte Brot backen und dorthin liefern. Auf der Rückfahrt von einer solchen Liefertour kam das Lieferfahrzeug von Nolte in Höhe der Scholven-Chemie in einen Bombenangriff. So mussten sie einige Zeit im Keller einer Wirtschaft in Ulfkotte verbringen.

In den letzten Wochen des Krieges und gleich danach war Nolte die einzige Bäckerei in Holsterhausen. Andere Bäckereien mussten aufgeben oder waren ausgebombt. Viele Bauern ließen noch in der Mühle Mense ihr Korn mahlen. Bei Nolte kauften nicht nur Holsterhausener ihr Brot, die Menschen kamen auch aus Hervest und Deuten. „Die Kunden standen mehrere hundert Meter Schlange!“ erinnert sich Hans-Josef Nolte.

Brennmaterial gab es immer genügend. Vom Bergwerk erhielten sie Steinkohle, die Rasche und andere Fuhrleute mit dem Pferdewagen abholte und dann im Kohlebunker an der Annettestraße einlagerten. „In der Backstube arbeitete noch ein dienstverpflichteter Altgeselle namens Jupp, dem im Krieg das Knie weggeschossen wurde und er auch noch an der Ferse operiert war.“

Borkener Straße in Holsterhausen um 1935

Jagdbomber schossen im Tiefflug auf Menschen

Der Tod seiner Mutter war für den Elfjährigen ein aufwühlendes Ereignis. Doch der Tod war in diesen Tagen und Wochen im März 1945 nichts Außergewöhnliches. Tage zuvor, in der Karwoche, als die Amerikaner Holsterhausen noch nicht besetzt hatten, ihre Panzer aber nicht mehr weit weg waren, bekam sein Vater noch eine Fuhre Mehl, die letzte im Tausendjährigen Reich. Der Wagen mit den Säcken kam aus Wesel. Der Fahrer und sein Begleiter luden das Mehl hinter der Bäckerei an der Annettestraße ab, als die ersten Jagdbomber auftauchten und Jagd auf Menschen machten, die sich auf der Straße aufhielten. Die beiden Männer suchten unter den bereits mit Blättern bewachsenen Linden und Eichen an der Borkener Straße Deckung. Als das Flugzeug wieder abdrehte, luden sie weiter aus und fuhren dann in Richtung Freudenberg zurück. „Ich kannte die beiden Männer schon lange, denn sie lieferten uns das Mehl bereits seit einiger Zeit!“ erinnerte sich Hans-Josef Nolte. Als das Auto die Borkener Straße hinausfuhr, waren wieder heulenden Jagdbomber und das Stakkato des Maschinengewehrfeuers zu hören. Die beiden Männer aus Wesel sind nur bis zum Freudenberg gekommen. Dort wurden sie beschossen, das Fahrzeug explodierte und brannte völlig aus. Die beiden Männer waren tot. Und dann sprudeln die Ereignisse nur so aus Noltes Erinnerung. Als die Amerikaner einrückten, plünderten die Holsterhausener noch schnell das Geschäft Hill an der Borkener Straße.

„Ich sah gerade zum Fenster unseres Erkers hinaus, von dem ich in beide Richtungen die Borkener Straße gut einsehen konnte. Ein Panzerwagen der Amerikaner stand schon in Sichtweite auf der Borkener Straße bei Kruse-Möller (heute El Tori/Einhaus). Uns gegenüber auf der anderen Seite sah ich einen uns bekannten Mann laufen. Vater rief ihm zu, er solle in Deckung gehen, es werde geschossen. Er winkte ab und rief zurück, er wolle sich erst bei Hill versorgen. Da krachte es auch schon. Der Mann wurde getroffen und fiel in den Graben.“

Nach dem Einmarsch der Amerikaner gab’s gelbes Maismehl

In den ersten beiden Wochen nach dem Einmarsch der Amerikaner wurde nicht nur mit dem bis dahin verwendeten Roggenmehl gebacken. „Dann haben uns die Amis das weiße Weizenmehl gegeben, das wir gar nicht mehr hatten, und später das gelbe Maismehl, das wir bis dahin überhaupt nicht kannten.“

Ein weiteres Ereignis konnte der Junge aus nächster Nähe beobachten. Als die Amerikaner Holsterhausen besetzt hatten, bedeutete dies die Freiheit für Ostarbeiter, Zwangsarbeiter und kriegsgefangene Russen. Letztere wurden noch vor Kriegsende auch zum Schutträumen nach der großen Bombardierung in Dorsten eingesetzt. Dort hatte sich einer wohl mit zwei gefundenen Schuhen versorgt, zwei linke, was Hans Pöter sofort bemerkte, der die Aufsicht über die Russen hatte. Hans-Josef sah vom Fenster aus, wie der Nazi furchtbar schimpfend den Russen mit der Pistole bedrohte. „Die erbarmungswürdigen Menschen hatten ja nichts zum Anziehen!“

Amerikaner sammelten Russen und Ostarbeiter ein

Russen und Ostarbeiter waren überall untergebracht: Frauen zum Beispiel im Saal der Wirtschaft Boers an der Borkener Straße (heute Kino), wo es immer nach Kohl stank, denn die Frauen, die bei Paton arbeiteten, bekamen kaum was anderes zu essen. Kriegsgefangene und Ostarbeiter gab es auch auf den Bauernhöfen und waren in den Wirtschaftsräumen der Gaststätten untergebracht. In der Wirtschaft neben der Bäckerei lebte eine Gruppe von Russen, darunter auch Polen und ein Italiener. Die Amerikaner sammelten die verstreut untergebrachten Ostarbeiter und Kriegsgefangenen in den Gebäuden von Maria Lindenhof, von wo sie dann weiter geschickt wurden in Richtung Heimat. Offensichtlich gefiel es der Gruppe dort nicht, denn sie kam nach zwei Tagen zurück in ihre alte Unterkunft. Denn dort waren sie ohne Aufsicht. Im hinteren Teil des Hofes entdeckten sie einen ausgedienten Waschkessel, der zur Fütterung der Schweine verwendet wurde. Zwei Russen führten die Gruppe an. Den einen nannten sie Professor, den anderen Alex. Sie fragten, ob sie den Kessel haben dürften. Als der Vater bejahte, brauten sie aus Zuckerrübenschnipsel fast hundertprozentigen Schnaps. Da der Pole mit seiner Ration unzufrieden war, verriet er die Schnapsbrenner an die Militärpolizei, die die Russen abholte. Wenige Tage später kam die Gruppe erneut bei Nolte zusammen und die Russen lockten auch wieder den verräterischen Polen mit dorthin. Hans-Josef Nolte: „Sie haben den Polen mit Backsteinen erschlagen!“ Wieder rückte die Militärpolizei an und transportierte den toten Polen ab. Sonst geschah nichts.

 

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