Wie ging die Bundesrepublik mit den NS-Tätern in den KZs, an der Front oder am Schreibtisch um? Wie mit den Vollstreckern in Rathäusern, Verwaltungen und Ministerien? – Fallbeispiele

„Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen vollbracht hat,
hat ein Recht darauf,
von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen“
Franz-Josef Strauß, bayer. Ministerpräsident, 1969 

Von Wolf Stegemann

Die Mitarbeit der Fachkräfte und Experten in den Verwaltungen trug dazu bei, dass die nationalsozialistische Herrschaft so fest etabliert wurde und dass das Regime so reibungslos funktionierte. Auch die Stadtverwaltung in Rothenburg hatte solche Verwaltungsfachkräfte. Die entscheidenden Maßnahmen, auf die es Hitler und seiner Gefolgschaft in Reich und Ländern ankam, wurden lückenlos durchgeführt, auch wenn sich die Beamten innerlich gegen sie auflehnten. Zu den Tätern können nicht nur die gerechnet werden, die direkt mit dem Morden zu tun gehabt haben, sondern auch diejenigen, die die Voraussetzungen für das Massensterben schufen. Das waren einerseits die bekannten Nazigrößen wie Sauckel, Heydrich, Himmler und andere zum anderen diejenigen, die in den Ministerien und Verwaltungen die entsprechenden Verordnungen und Erlasse ausarbeiteten und in den Rathäuser dafür sorgten, dass die Erlasse befolgt wurden.

Bundestag und Regierung schützten und rehabilitierten NS-Täter

Als wäre nichts geschehen, als hätten sie nicht kurz zuvor noch sechs Millionen Juden und eine halbe Million Sinti und Roma gemordet, als hätten sie nicht die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte begangen, machten sie nach 1945 in der jungen Bundesrepublik wieder Karriere: Die Mörder des Dritten Reichs. Gedeckt und protegiert wurden sie unter anderem von der deutschen Justiz, welche die Strafen, die von den alliierten Gerichten zuvor verhängt worden waren, herabsetzte, die Anklagen verschleppte und die Mörder freisprach. Lebensläufe wurden schamlos geschönt und gefälscht und die braunen Flecken in der Firmengeschichte getilgt. Die braunen Seilschaften garantierten Karrieren in Wirtschaft, Justiz und Politik. Von Franz-Josef Strauß ist aus jener Wirtschaftswunder-Zeit, in der er noch bayerischer Ministerpräsident war, der Ausspruch überliefert: „Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen vollbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen“ (zitiert nach Frankfurter Rundschau vom 13. September 1969).

Am 29. Juni 1961 beschloss der Bonner Bundestag, dass auch alle Angehörigen der ehemaligen SS-Verfügungstruppe, die am 8. Mai 1945 länger als zehn Jahre im Dienste Himmlers und Hitlers standen, versorgungsberechtigt sind. Dieser Beschluss öffnete Tausenden Judenmördern und KZ-Henkern den Weg in den westdeutschen Staatsapparat.
In den Behörden und Ministerien der Republik, die sich nun auch wieder bewaffnete, wurde es schon üblich, dass belastete Beamte von ehedem erneut aufstiegen. Allen voran Kanzler Adenauers Chefberater und Staatssekretär Hans Globke. Der Jurist, der 1935 die nationalsozialistischen Rassengesetze im Sinne des Regimes kommentiert hatte, blieb 14 Jahre auf seinem Bonner Posten, und die Opposition im Deutschen Bundestag beließ es bei Verbalprotesten. Des Staatssekretärs Vergangenheit sei, rechtfertigte ihn der Regierungschef, schon von den Alliierten minutiös nachgeprüft worden.

NS-Ärzte praktizierten meist unbeschadet weiter

Das Musterbeispiel einer makellosen Nachkriegskarriere lieferte der ostfriesische Arzt Theodor Werner Scheu, der 1941 als SS-Reitersturmführer bei einer eigenmächtigen Abschreckungsaktion (Scheu) 220 litauische Juden erschießen ließ und auch selbst schoss, 1960 enttarnt werden konnte und vom Schwurgericht Aurich zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt wurde: Dr. Scheu hatte es bis dahin zum Amtsarzt im Nordseebad Borkum und zum Besitzer eines Kindersanatoriums wie eines privaten Kinderheims Möwennest gebracht, war Aufsichtsarzt im Städtischen Krankenhaus, Mitglied des Kurbeirats und Vorsitzender des Reitervereins geworden.
Der SS-Hauptsturmführer und KZ-Arzt in den Konzentrationslagern Mauthausen, Natzweiler-Struthof und Sachsenhausen Dr. Heinz Baumkötter vor 1945 an Menschenversuchen im KZ-Sachsenhausen beteiligt, konnte nach 1945 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Chemie Grünenthal GmbH, Büro Münster (Conterganverbrechen) sein Wissen weitergeben. Was daraus wurde hat die Welt zu sehen bekommen.
Es wird geschätzt, dass 45 Prozent aller deutschen Ärzte Mitglieder in der NSDAP waren. Das war neben den Lehrern die höchste Quote innerhalb eines Berufszweiges. Der Nationalsozialismus, so Rudolf Hess, war einfache angewandte Biologie. Deutsche Ärzte sollten dabei die Rolle der Selektierenden übernehmen, um die deutsche Rasse von all dem zu heilen, was ihr schaden könne. Viele waren mit Enthusiasmus und Elan bis zum Ende dabei, ohne eine Spur von Mitleid und Reue zu zeigen. Nach dem Krieg wurden viele dieser Ärzte Mitglieder in der World Medical Association, wurden sogar in leitende Positionen gewählt, und sie praktizierten weiter Medizin. Auch in Deutschland.

Leiter des LKA Rheinland-Pfalz war Leiter eines Exekutionskommandos

Auffallend oft gelangten ehemalige Polizeibeamte auch ohne Decknamen wieder in den alten Dienst. Der 1961 verhaftete Koblenzer Kriminaloberst Georg Heuser, Leiter des rheinland-pfälzischen Landeskriminalamts, dem die Kollegen untadeliges Verhalten bescheinigten und Blumen in die Untersuchungshaft schickten, war ehedem Leiter eines Exekutionskommandos an der Ostfront, ebenso der ein Jahr zuvor festgenommene Leiter der Gießener Schutzpolizei, Hans Hoffmann, bei dessen Prozess (Urteil: dreieinhalb Jahre Haft) sich herausstellte, dass fast alle der vierzig Zeugen aus der alten Hoffmann-Einheit wieder aktive Ordnungshüter geworden waren.

Miterfinder der fahrbaren Gaskammern wurde Polizeichef

Zum Leiter der Polizei-Abteilung beim Regierungspräsidenten von Hannover stieg nach dem Krieg der frühere Polizeimajor und RSHA-Referatsleiter Friedrich Pradel auf. Ihm hatte die Stadt Hannover 1945 die fadenscheinige Behauptung abgenommen, er habe ein ihn belastendes Dokument seinerzeit lediglich abgezeichnet, jedoch nicht gelesen. Erst spätere Recherchen der Ludwigsburger Fahnder ergaben, dass Pradel, 1966 zu sieben Jahren verurteilt, einer der Erfinder der fahrbaren Gaskammern war und den Konstruktionsbericht für jene Todeswagen genehmigt hatte, die ab 1941 zur Ermordung polnischer Juden verwendet wurden.
Ausstellung über Verbrechen der Hamburger Polizeibataillone
Da die Mörder durch die strengen Datenschutzreglungen in der BRD geschützt wurden, durften die Namen der Täter lediglich in Dokumenten außerhalb der BRD veröffentlicht werden. Der Schutz der Täter ging in Hamburg so weit, dass eine Ausstellung der Hamburger Polizei über die Verbrechen der Hamburger Polizeibataillone zuerst ausschließlich für Polizisten zugänglich war, angeblich aus datenschutzrechtlichen Gründen. Erst auf Druck hin wurde erreicht, dass die Ausstellung entschärft der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.

Zwangsarbeiter-Kriegsgewinne in Nachkriegsindustrie überführt

Wenig bekannt ist, dass die eng mit der faschistischen Führungsclique verbundenen Konzernherren Quandt die aus der Zwangsarbeit gepressten Kriegsgewinne in der Nachkriegszeit in ihre bedeutenden Anteile an dem Automobilunternehmen BMW umwandeln konnten, wo ihre Nachkommen heute Hauptaktionäre sind.

Münchener Polizei führte die „Zigeunerkartei“ nach 1945 nahtlos weiter

In keiner Behörde, wurden Strukturen Personalpolitik und Organisation so ungebrochen fortgesetzt wie bei Polizei und Justiz. Kaum einer der Hauptverantwortlichen für den Völkermord an Sinti und Roma war je zur Verantwortung gezogen worden. Im Gegenteil, viele Beamte, die während des Dritten Reiches beim Reichsicherheitshauptamt direkt an der Verfolgung und Deportation von Zigeunern beteiligt waren, wurden nahtlos in Dienststellen der Bundesrepublik übernommen und stiegen dort die Karriereleiter hinauf. Bezeichnend, die polizeiliche Neuerfassung überlebender Sinti und Roma, wurde im Landeskriminalamt München mit altem Personal weiterbetrieben. Es waren dieselben Beamten, die bis 1945 für die Deportationen von Zigeunern aus Bayern in die Konzentrations- und Arbeitslager zuständig gewesen waren. Hans Eller, Georg Geyer, August Wutz und Josef Eichberger setzten unter Verwendung von altem NS-Aktenmaterial (Rassengutachten, Deportationsunterlagen und Merkmalskarteien) die erneute Sondererfassung – Diskriminierung und Ausgrenzung fort. So betrieben die polizeilichen Landfahrerzentralen nicht nur eine Totalerfassung aller überlebenden Sinti und Roma, sondern führten auch in ihrer polizeilichen Ausbildung und Schulung rassistisches Denken und tradierte Vorurteile durch Vorträge so genannter „Zigeuner-Experten“ aus dem ehemaligen Reichssicherheitshauptamt (RSHA) fort. Bei der Münchner Kriminalpolizei gab es bereits 1946 wieder eine Abteilung für Zigeunerfragen. Diese Abteilung übernahm nicht nur die Akten der 1899 gegründeten „Zigeunerzentrale“, sondern zum Teil auch altes Personal der NS-Diktatur. Am 14. Oktober 1953 beschloss der Bayerische Landtag eine „Landfahrerordnung“, die sich vom „Zigeunergesetz“ von 1926 kaum unterschied. Sie entsprach dem nach wie vor grassierenden Geist der Diskriminierung, der auch in einem Urteil des Bundesgerichtshof von 1956 zu Tage tritt: „Zigeuner neigen zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien. Es fehlen ihnen vielfach die Antriebe zur Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.“– Erst 1970 wurde die entsprechende Landfahrerordnung wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz aufgehoben. Noch 1999 wurde bekannt, dass die bayerische Polizei in einer gesonderten Kartei immer noch Daten über Sinti und Roma gesammelt hatte, und zwar unabhängig davon, ob gegen die betreffenden Personen polizeilich ermittelt wurde oder nicht.
Fotos: Globke (vorhanden)

Zigeuner-Deportation (vorhanden)

Polizei im Einsatz Judenerschießungen (vorhanden)

Ärzte im Einsatz KZ (vorhanden)

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