»Arisierung« war das große Geschäft – Staat und Dorstener Bürger profitierten von der »Entjudung der Wirtschaft« – Nach 1945 hatten Profiteure nur geringe Nachzahlungen zu leisten

Hetzplakat gegen Juden in einer Apotheke

Von Wolf Stegemann

Die »Entjudung der Wirtschaft« war ein erklärtes Ziel der Nationalsozialisten, wobei sie nicht nur die rassi­sche Ideologie im Auge hatten, sondern auch die viel­fältigen Möglichkeiten, die Staatskassen zu füllen. Was dem Staate recht war, konnte den NS-Anhängern und Mitläufern nur billig sein. Zehntausende profitierten von der Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bürger, wobei der deutsche Staat über seine Finanzäm­ter der größte Profiteur war. Allein 900 Millionen Reichsmark kassierte er als so genannte »Reichs­fluchtsteuer« von den emigrierenden Juden. Der Wulfener Josef Moises musste über 12.000 RM »Reichsfluchtsteuer« bei seiner im Gefängnis erpressten Aus­wanderung nach Palästina bezahlen. Als während des Novemberpogroms 1938 jüdische Sy­nagogen, Geschäfte und Wohnungen verbrannt und demoliert wurden, kassierte der Staat doppelt: Der an­gerichtete Schaden musste von den Opfern gezahlt wer­den, die fälligen Versicherungssummen bekamen nicht die Geschädigten, sondern ebenfalls die Staatskasse. Zudem musste die gesamte deutsche Judenschaft 1938 und 1939 eine als »Sühneleistung« deklarierte Abgabe von über einer Milliarde Mark an den Staat entrichten, 1940 noch einmal 95 Millionen Reichsmark. Die Behörden verstanden es, durch Terror und Ge­setze Juden aus dem Wirtschaftsleben zu drängen, sie um ihren privaten Besitz und um ihre Geschäfte zu bringen, waren es nun Fabriken oder Tante-Emma-Lä­den.

Die "Entjudung" der Wirtschaft fing mit dem Boykott an

Große Firmen und kleine Leute profitierten

Die Überführung jüdischen Besitzes in arische Hände wurde »Arisierung« genannt. Während Juden durch den Arierparagrafen und die Nürnberger Ge­setze aus dem öffentlichen Leben schon bald weitge­hend ausgestoßen worden waren, blieben ihnen im wirtschaftlichen Bereich noch Reservate, die dann durch die Arisierung beseitigt wurden. Am 26. April 1938 wurde die Anmeldepflicht für Vermögenswerte von über 5.000 RM verfügt und der Zugang der Juden zu ihren Bankkonten eingeschränkt. Am 14. Juni 1938 ordnete das Innenministerium die Registrierung aller jüdischen Unternehmen an. Der Staat setzte den Ver­kaufswert aller jüdischen Betriebe auf einen Bruchteil des Verkehrswertes fest und sorgte mit abgestuften Druckmitteln für die Veräußerung nur an erwünschte Personen. Neben den großen Arisierungsgewinnlern wie die IG-Farben, die Flick-Gruppe und Großbanken waren es viele »arische« Kaufleute, Parteigenossen oft, die mit der Übernahme von jüdischen Manufaktur­warenhandlungen, Metzgereien und Geschäften nicht nur guten Profit machten, sondern auch lästige Konkurrenten los wurden. Auch hier verdiente der Staat, indem er im Schnitt rund 30 Prozent des »Entjudungsgewinns« für sich abzweigte. Die jüdischen »Verkäu­fer« mussten aber die Gesamtsumme (zuzüglich der Ausgleichssumme) als Gewinn versteuern und weitere 20 Prozent als »Sühneleistung« zahlen. Wenn dann dennoch etwas übrig blieb, kassierten die Banken, oder der Betrag ging auf ein Sperrkonto, das unter der Kontrolle der Gestapo stand. Nach der Deportation gingen die Gelder in den Besitz des Staates über. Bewegliche Wertsachen, Kunstbesitz und Schmuck durften Juden ohne Genehmigung weder verschen­ken, übertragen, verpfänden oder frei verkaufen. Jede Veräußerung hatte über die Ankaufsstellen des Staates zu erfolgen. 1939 erging eine Verordnung, nach der aller Schmuck abgeliefert werden musste. Ab 1940 wurde eine »Judensteuer« erhoben, die den Tarnnamen »So­zialausgleichsabgabe« führte. Vom Frühjahr 1941 an beutete der Staat arbeitsfähige Juden durch Zwangsar­beit unter Aufhebung der Arbeitsschutzbestimmungen und der Tarifverträge aus.

Geschirr aus aufgelösten jüdischen Haushalten wird zum Kauf angeboten; Foto: Gelsenzentrum

Rund vier Milliarden Reichsmark wurden den Juden weggenommen

Allein an Betriebs- und Grundstücksvermögen wur­den von 1938 an rund vier Milliarden RM in »deut­schen Besitz« überführt. Der »Run der Ariseure« nahm im November 1938 Formen einer »Torschlusspa­nik« an, denn die besten Objekte waren bereits weg. Oft gab es für jedes jüdische Grundstück drei bis fünf Bewerber. Rund 10.000 kleine Geschäfte fanden neue Eigentümer. Auf ähnliche Weise gelangten Äcker, Wiesen und Häuser an arische Besitzer, wobei auch und insbesondere die »kleinen Leute« in den kleinen Städten und Gemeinden ihren Gewinn machten. Während der »Reichskristallnacht« wurde in großem Umfang geplündert. Das Dorstener Synagogeninven­tar, u. a. auch Silbergegenstände, wurde bei der Verwü­stung des Gotteshauses von Plünderern mitgenom­men. Es tauchte nicht wieder auf. Die jüdischen Mie­ter mussten auch ihre Wohnungen räumen. Beispiels­weise wurde der Familie Metzger am Hochstadenwall die Wohnung gekündigt und mit der Zwangsräumung gedroht. Wer Beziehungen hatte, kam billig oder auch ohne Bezahlung an »Judenmöbel«; auch in Dorsten, wo jüdischer Hausrat öffentlich versteigert wurde. Nach der Deportation wurden nicht wenige Objekte »ausgeräumt«. In einem hessischen Dorf stiegen nach der Verschleppung einer jüdischen Familie die Nach­barn mit Leitern über den ersten Stock in deren Bau­ernhaus ein. Die Eingangstüren hatte die Gestapo ver­siegelt. In Dorsten? Eine Augenzeugin erinnert sich, dass nach der Deportation der jüdischen Familien aus dem Gemeindehaus in der Wiesenstraße ein SS-Mann u. a. die Spardose des kleinen jüdischen Mädchens Judis, das soeben mit seinen Eltern nach Riga de­portiert wurde, plünderte und die paar Pfennige an sich nahm.

Nach dem Krieg waren in Dorsten nur geringe Nachzahlungen zu leisten

Für die materiellen Schäden leistete die Bundesrepu­blik nach dem Kriege als Rechtsnachfolgerin des Drit­ten Reiches Wiedergutmachung. Den neuen Besitzern wurden Häuser und Grundstücke nur in den seltensten Fällen wieder abgenommen. Meist wurde der »Rückerstattungsanspruch«, den die früheren Besitzer, deren Erben oder die Jewish Trust Corporation, bei den Wiedergutmachungsämtern geltend machten, durch einen Vergleich aufgehoben. Oft hatten die neuen Besitzer nur minimale Nachzahlungen als Entschädigung zu lei­sten.

Wiedergutmachungsverfahren nach Aktenlage

Inserat des Dorstener Konfektionshauses Cohn in der "Dorstener Volkszeitung"

Siegmund Cohen: Als in nationalsozialisti­scher Zeit ein Strafverfahren wegen Steuerhinterzie­hung gegen den Dorstener Kaufmann Siegmund Cohen eingeleitet wurde, war er bereits ins Ausland geflüchtet. Die Gebäude standen leer, verfie­len zusehends und wurden auf Antrag der Dorstener Kämmereikasse ab 1936 zwangsverwaltet. Da die Er­trägnisse nicht einmal die Grundsteuern deckten, die Forderungen immer größer wurden, beantragte die Kämmereikasse der Stadt Dorsten die Zwangsverstei­gerung des auf 155.000 RM geschätzten jüdischen Besitzes. Die Forderungen der Stadt beliefen sich auf 4.250 RM. Das Amtsgericht Dorsten gab dem Antrag statt (Az. K 56/31). Bei der Versteigerung am 11. März 1939 erwarb ein Dorstener Kaufmann Häuser und Grundstücke für 60.000 RM. 1952 beantragte die Jewish Trust Corporation for Germany, London WC 1, Woburn House, Upper Woburn Place, vertreten durch die Rechtsanwälte Dr. Lachs, Dr. Pesta und Dr. Strathmann beim Wiedergutmachungsamt beim Landgericht Essen Rückerstattung des jüdischen Besitzes. Bei der mündlichen Verhand­lung am 19. Juni 1952 (Az. RüT 1130/51) schlossen die Parteien einen Vergleich: Die Jewish Trust Corpora­tion verzichtete auf Rückerstattung des Besitzes. Als Ausgleich aller Ansprüche hatte der Dorstener Kauf­mann eine Zahlung von 500 DM auf das Konto der JTC in Mülheim zu zahlen – innerhalb von acht Tagen.

Synagogengrundstück: Haus und Grundstück Wiesenstraße 24 gehörten der jüdischen Gemeinde. Nach Auflösung ging der Besitz an die »Reichsvereinigung der Juden in Deutschland« über, die von den Nazis aufgelöst und deren Besitz dann beschlagnahmt und vom Deutschen Reich ver­einnahmt wurde. Haus und Grundstück »erwarb« die Stadt Dorsten, die nach dem Kriege eine Entschädi­gung zahlen musste. Inzwischen ist das Grundstück Privatbesitz.

Das Haus Perlstein in der Essener Straße, Architektenzeichnung 1924

Erbengemeinschaft David Perlstein: »Der Besitz der bebauten Grundstücke Essener Straße 22 und 24 gingen nach dem Tode von David Perlstein am 2. September 1933 an die Erbengemeinschaft über, der die Witwe Amalie Perlstein und die Kinder Albert (Kall/Eifel), Hermann (Dorsten), Elise Levy (Völklin­gen), Herta Becker (Dorsten), Walter (Dorsten) und Karl (Völklingen) angehörten. Im Zuge der Zwangs­arisierung verkaufte die Erbengemeinschaft die bei­den Grundstücke an der Essener Straße (Metzgerei mit Wurstküche und Laden) sowie zwei Grundstücke auf der Hardt für insgesamt 12.000 RM. Dies ist genau die Summe, mit der die Grundstücke mit einer Hypo­thek und mit Grundschuldeintragungen bei der Kreis­sparkasse belastet waren. Der ursprünglich höher vereinbarte Kaufpreis von 16.000 RM wurde vom Regierungspräsidenten nicht genehmigt, sondern gemäß §§ 8, 15, 17 der Verordnung über den Einsatz des jüdi­schen Vermögens vom 3. Dezember 1938 reduziert. Als die betagte Witwe Amalie Perlstein auf ihre bean­tragte Auswanderung hinwies, durfte sie mit ihren un­verheirateten Kindern vertraglich als Mieterin im ver­kauften Haus wohnen bleiben. Die Miete betrug 20 RM. Zur Auswanderung kam es nicht.

Amalie Perlstein mit Enkelkindern Ursula und Liesel

Amalie Perlstein starb im Oktober 1941 in Dorsten. Vor dem Wiedergutmachungsamt beim Landgericht Essen kam es am 8. April 1952 zu einem Vergleich zwi­schen der Jewish Trust Corporation und dem neuen Ei­gentümer, einem Metzgermeister (Az.: Rü T 86/52). Die beiden Grundstücke an der Essener Straße durfte er behalten. Dafür zahlte er an die JTC in London 5.000 DM – in monatlichen Raten von 50 DM. Er be­hielt zwei Grundstücke in bester Geschäftslage, die er in 100 Monatsraten abzahlen durfte. Für die beiden anderen Grundstücke auf der Hardt, die er kurz nach dem Erwerb im Jahre 1939 an die Stadt weiterverkaufte, zahlte die Stadt Dorsten nach Ab­schluss des Wiedergutmachungsverfahrens (Az.: Rü T 1159/51, Rü T 131/52) aufgrund eines Vergleichs im Jahre 1952 eine Entschädigungssumme von 1.100 DM an den Vertreter der Jewish Trust Corporation – sofort und in bar.

Inserate der Firmen Kaufhaus Bär und Modehaus Joseph, 1927

Metzgerei Ernst Perlstein: Schon 1935 »arisierte« der Metzger Ernst Perlstein sei­nen Besitz in der Klosterstraße 3; danach wanderte er nach Amerika aus. Am 1. Dezember 1935 schloss er den Übernahmevertrag mit den Erwerbern, einem Metzgermeister und dessen Frau. Perlstein verkaufte Grundstück, Haus und Inventar, wobei ein Teil des Kaufpreises als Hypothek bestehen blieb, die erst 20 Jahre später gelöscht wurde. 1937 verkaufte das Ehepaar das Grundstück zu einem um 20 Prozent höheren Kaufpreis, als es selbst bezahlt hatte. Im Auftrage von Ernst Perlstein, der 1943 in Pittsburgh die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, betrieb 1949 ein Anwalt ein Wiedergutmachungsverfahren gegen die beiden nachfolgenden Besitzer im Rahmen von Rückerstattungsansprüchen. 1951 schaltete sich die Jewish Trust Corporation in das Verfahren beim Wiedergutmachungsamt Essen ein. Aufgrund des Verfahrens wurde ein Rückerstattungsanspruch gemäß Rückerstattungsgesetz Art. 53 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 59 der britischen Militärregierung eingetragen. Im gleichen Jahr kam ein Vergleich zustande. Die neuen Eigentümer zahlten einen symbolischen Wiedergutmachungsbetrag an Perlstein. Die aufgrund des Verkaufs an den Erstkäufer eingetragene Sicherungs­hypothek aus dem Jahre 1935 wurde im Verhältnis 10:1 umgestellt und 1954 an Ernst Perlstein zurückgezahlt.

Kaufhaus zum Bär: Seit 1919 betrieb Else Neuberg in der Lippestraße 22a (heute Lippestraße 18/Ecke Bauhausstiege) das Kauf­haus zum Bär. Durch Kaufvertrag vom 4. Mai 1937 wurde das Geschäft »arisiert«. Die Übergabe des Hau­ses mitsamt dem Inventar an den neuen Besitzer er­folgte am 1. Juni 1937. 1950 wurde das Wiedergutma­chungsamt beim Landgericht Essen tätig und veranlasste die Eintragung eines Rückerstattungsanspruchs, der wenige Monate später aufgrund eines Vergleichs wieder gelöscht wurde. Ob und in welcher Höhe Wie­dergutmachungszahlungen geleistet wurden, ist nicht bekannt.

Modehaus Joseph am Markt (li.)

Modehaus Joseph: Als der Kaufmann Ernst Joseph im August 1919 Grundstück und Haus am Markt 14 kaufte und dort ein Mode­haus einrichtete, beglich er den Kaufpreis in Höhe von 60.000 RM neben Bargeld auch mit der Übernahme ei­ner Hypothek, die auf dem Hause lag. Durch den Um­bau des Hauses erhöhte sich der Wert um 20.000 auf 80.000 RM. Noch 1919 löste Ernst Joseph die Restgeldhypothek des Vorbesitzers ab und nahm dafür ein Darlehen bei der Kreissparkasse auf. Nach dem Boykott der jüdischen Geschäfte vom 1. April 1933 wanderte die Familie Joseph nach Holland aus. Das Geschäft übernahm eine Dorstener Putzma­cherin. Ernst Joseph blieb aber Eigentümer des Hau­ses.

Inserat von Foseph in der "Dorstener Volkszeitung" vom 11. Juni 1920

Am Tage des Boykotts kündigte die Kreisspar­kasse das Darlehen mit einer Frist von nur acht Tagen. Das eingeleitete Verfahren der Zwangsversteigerung schleppte sich hin. Erst 1935 wurde die Kreissparkasse mit einem Bruchteil des tatsächlichen Wertes des Hau­ses am Markt Eigentümerin. Im März 1939 verkaufte die Kreissparkasse das Anwesen zu einem niedrigen Kauf­preis an den stellvertretenden NSDAP-Ortsgruppen­leiter Gahlen, einem Handwerksmeister. 1948 strengten die überlebenden Kinder des in Ausch­witz ermordeten Ehepaares Joseph ein Wiedergutma­chungsverfahren an, das die Jewish Trust Corporation gegen die Kreissparkasse und den späteren Eigentü­mer beim Landgericht Essen betrieb. Es wurde 1951 mit einem Vergleich abgeschlossen. Der neue Eigentü­mer zahlte für ein Geschäftshaus in bester Dorstener Lage am Marktplatz den lächerlich kleinen Betrag von 200 DM an die Kinder der ermordeten früheren Hausbesitzer.

 Wulfen

Josef Lebenstein: Den Besitz der 1934 bzw. 1936 verstorbenen Eheleute Alexander und Amalie Lebenstein in Wulfen erbte der Sohn Josef Lebenstein, Kirchplatz 2. Am 12. Dezember 1938 verkaufte dieser sein Wohngrundstück und seinen Anteil am jüdischen Friedhof (der andere Teil gehörte Josef Moises) zu einem niedrigen Kaufpreis an einen Bergmann. Das Wohngrundstück war mit einer Hypothek belastet. Weitere amtliche Unterlagen über die Abwicklung der Übernahme und über eventuelle Wiedergutmachungsleistungen nach 1945 sind nicht vorhanden. Bereits im August 1938 hatte Josef Lebenstein seinen Garten Vorderey an der Eisenbahnlinie an einen Wulfener verkauft, der später nach Dortmund verzog. Der geringe Kaufpreis war an die Finanzkasse Gladbeck zu zahlen. Auch hier ist ein eventuelles Wiedergutmachungsverfahren nicht bekannt. Es ist zu vermuten, dass keine Erben überlebt haben, die ein solches Verfahren hät­ten betreiben können. Auch wurde – im Gegensatz zu vielen anderen solcher Fälle – die Jewish Trust Corpo­ration in London nicht aktiv.

Joseph Moises in den 1970er Jahren in Israel

Familie Josef Moisés: Am 29. Januar 1935 übertrugen die Eheleute Meier Moises ihr gesamtes nicht unbeträchtliches Vermögen auf ihren Sohn Josef Moises. Als dieser während des Pogroms im November 1938 verhaftet wurde und im Gefängnis saß, nötigten ihn die Behörden zur Einwilli­gung, Deutschland zu verlassen. Josef Moises wan­derte am 16. Februar 1939 nach Palästina aus (»ich wurde zum Bahnhof gepeitscht«). Einen Tag vorher übertrug er sein von den Eltern erhaltenes gesamtes Vermögen auf seine Schwester Adele, die mit Fritz Wieler aus Recklinghausen verheiratet war. Diese trat die Restkaufgeldhypothek an einen Wulfener Ge­schäftsmann ab. Nach dem Übernahmevertrag zwi­schen Josef und Adele Moises vom 15. Februar 1939, abgeschlossen vor dem Notar Ferdinand Beckmann, wurde aus dem Verkauf des gewerblichen Betriebes und aller in »Deutschland befindlichen Grundstücke« des Eigentümers ein Erlös von 23.727,60 RM erzielt. Davon hatte Moises zu zahlen: Reichsfluchtsteuer 12.750 RM, Vermögensabgabe an das Finanzamt 4.300 RM, Palästina-Transfer 6.500 RM. Die Addition die­ser Summen macht 23.550 RM, also den Verkaufserlös aus. Die nicht verkauften Grundstücke trat Joseph Moises an seine Schwester ab. Zu dem übertragenen Vermögen gehörten auch die Kaufpreisforderung für das Warenlager, das auf 10.000 RM geschätzt wurde, ferner die Ladeneinrichtung und Geschäftsforderungen von je 2.000 RM. Der Oberpräsident von Westfa­len genehmigte diesen Vertrag im April.

Inserat aus dem Jahre 1927

1949 meldete das »Restitution Office of the Irgun Oley Merkas Europa, Association of Jews from Central Eu­rope, as Palestinian Constituent of the Council of Jews from Germany« in Tel Aviv beim Landgericht Essen Wiedergutmachungsansprüche für Josef Moises an. In einem Vergleich, den Moises 1952 mit dem damaligen Käufer der Restkaufgeldhypothek schloss, bekam Moi­ses eine Entschädigung. Das Ackergrundstück am Ostendorfer Kamp wurde 1938 an ein Wulfener Ehepaar verkauft, das aufgrund des Wiedergutmachungsverfahrens eine Entschädi­gung zahlen musste. Der Kaufpreis für einen über 2.000 qm großen Acker am Richtersfeld, der 1938 von einem eingeses­senen Landwirt „arisiert“ wurde, wurde vom Oberpräsiden­ten der Provinz Westfalen – Landeskulturabteilung – in Münster um die Hälfte auf 524,16 RM reduziert mit der Begründung:

»Der jüdische Veräußerer landwirtschaftlich genutzter Grundstücke soll grundsätzlich als Kaufpreis nur den Siedlungsverwertungswert erhalten, der amtlich ermit­telt ist. Der Kaufpreis ist daher auf diesen Betrag her­abgesetzt worden. Der Verkehrswert des Grundstücks ist etwas höher ermittelt worden. Den Unterschiedsbetrag 174,72 RM zwischen dem reduzierten Kaufpreis und dem etwas höheren Verkehrswert hat der Käufer als Ausgleichszahlung an das Reich abzuführen. Der Bescheid beruht auf der Verordnung vom 3. 12. 1938.«

So sah die amtliche Berau­bungspraxis der Behörden aus. Der Kaufpreis ging auf ein Sperrkonto. Er diente einer möglichen Auswande­rung. Zwischen 1950 und 1954 wurde das Wiedergut­machungsverfahren betrieben. Es soll eine Nach­zahlung erfolgt sein. Amtliche Unterlagen gibt es nicht. Derselbe Landwirt war 1938 auch der Erwerber von zwei Acker- bzw. Holzgrundstücken am Linnert mit ei­ner Gesamtgröße von 13.513 qm. Wie in den anderen Fällen wurde auch hier der Kaufpreis durch den Ober­präsidenten der Provinz Westfalen auf 2.162,08 RM re­duziert und eine »Ausgleichszahlung« in Höhe von 540,52 RM an die Staatskasse gefordert. Zwischen 1950 und 1954 wurde ein Wiedergutmachungsverfah­ren betrieben, über dessen Vergleich nichts bekannt ist. Auch beim Verkauf des Wohnhausgrundstückes »Klei­ner Ring 9« am 3. Januar 1939 reduzierte der Oberprä­sident der Provinz Westfalen die vereinbarte Kauf­summe und legte fest, dass ein Teil der Kaufsumme als »Ausgleichszahlung« an das Reich abzuführen sei.

Auch der jüdische Friedhof in Wulfen gehörte einst der Familie Moises; Foto: Christian Gruber

Im Jahr 1950 erfolgte in der Wiedergutmachungssache des Wulfener Wohnhauses die Eintragung eines Rückerstattungsvermerks. Ein Jahr später wurde beim Landgericht Essen ein Vergleich ge­schlossen, nach dem der Erwerber die damals zu niedrig gezahlte  Kaufsumme noch einmal zu zahlen hatte. Mit Vertrag vom 13. Februar 1939 verkaufte Moises das Grundstück und Gebäude Hervester Straße 8. Bei Ver­tragsabschluss wohnten in dem Haus noch die Schwe­ster von Joseph, Adele, und ihr Mann Fritz Wieler. Die Aufsichtsbehörde genehmigte den Vertrag mit der Maßgabe, dass das Haus von einem anderen Interes­senten erworben wird. Der Kaufpreis wurde um 2.000 RM erhöht, die an das Reich abzuführen waren. Der Interessent kaufte Haus und Geschäft für 30.000 RM (Baukosten 1930: 60.0000 RM). Nach der Wiedereröff­nung 1939 konnte Adele Wieler eine zeitlang als Ver­käuferin im Hause bleiben, bis sie mit ihrem Mann nach Recklinghausen verzog. Von dort wurden beide nach Riga deportiert, wo sie ermordet wurden. Auf Veranlassung des Wiedergutmachungsamtes er­folgte 1950 die Eintragung eines Rückerstattungsan­spruchs. Nach einem Vergleich vom November 1951 mit einer Nachzahlung von 30.000 DM wurde das Ver­mögen wieder freigegeben und der Rückerstattungs­vermerk gelöscht.

Lembeck

Erbengemeinschaft Lebenstein: Am 27. September 1937 übertrug die Witwe des Han­delsmannes Isaac Lebenstein, Sara (Sophie) Leben­stein, den gesamten Besitz, darunter das Wohnhaus­grundstück Lembeck 16 an der Wulfener Straße, ihrer ledigen Tochter Selma Lebenstein, die 1942 deportiert wurde. Im Mai 1942 beantragte der Oberfinanzpräsi­dent Westfalen die Umschreibung der Grundstücke auf das Deutsche Reich, was dann auch geschah.

Jüdischer Grund- und Hausbesitz um 1933; entnommen: Wolf Stegemann / S. Johanna Eichmann "Juden in Dorsten und in der Herrlichkeit Lembeck" 1989

Veröffentlicht unter Boykott / Arisierung, Jüdisches Leben | Verschlagwortet mit , , , , , .

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert